Aus meinem aktuellen Essay über die Identitätskrise der Männer für die Zeitschrift ELLE
Das kann ein Mann nie, niemals. Auch nicht, wenn ich mich seelisch und körperlich noch so sehr aufarbeite, um in die Rolle einer Frau zu schlüpfen, ich werde es nie können: Leben schenken. Es ist überflüssig, an diesem Gefälle zwischen Frau und Mann zu tüfteln. Es ist einfach da, so sehr sich die Männer auch darum bemühen, das Gegenteil zu beweisen.
Die anderen unterschiedlichen Umstände, unter denen wir leben – wir haben sie selbst geschaffen. Vielleicht sind Frauen in diesem, Männer in jenem Bereich anders. Aber dies berechtigt nicht dazu, sich auf unterschiedliche Stufen zu stellen. Leider tun das die Männer aber immer noch. Trotz Gleichberechtigung, Gesetzgebung, trotz allem Freiheitsgetue. Die Männer wollen die Welt managen. Im Alleingang. Und das geht nicht mehr. Ihre Arbeitsergebnisse sind schlecht. Nach Jahrhunderten Männer-‚Herr‘schaft können sie mit ihren entscheidungsunfähigen Konferenzen nicht einmal die Klimakatastrophe aufhalten. Sie produzieren immer mehr Kriege. Sie haben mit ihrer Korrumpierbarkeit und ihrer an finanziellem Gewinn und Macht orientierten Erfolgssucht eine Welt geschaffen, die von sozialer Ungerechtigkeit und Diskriminierung strotzt. Ja, vielleicht können es auch die Frauen nicht. Vielleicht sind auch Frauen böse. Vielleicht haben auch sie mit ihrer Empathie Probleme, sobald sie an der Macht sind. Aber ich würde es gerne versuchen: Was würden Frauen tun, wenn wir Männer ihnen das Ruder übergeben würden. Wir brauchen eine Veränderung, eine Geschlechter-Revolution. Es ist höchste Zeit, dass das rigide System der Geschlechterrollen aufgebrochen wird. Die Frauen haben mit ihrer Befreiung (die noch lange nicht fertig ist) einen Riesenschritt nach vorne gemacht. Die Männer müssen nachziehen, sonst kommen sie niemals hinterher.
In der Universität Cambridge hat der Gender-Forscher Simon Baren-Cohen entdeckt, dass Autismus eine extreme Form von Männlichkeit ist. Das hängt u.a. mit der reduzierten Empathiefähigkeit der Männer zusammen. Die Gender-Völkerkundlerin Linda R. Owen hat in langjährigen Forschungen festgestellt, dass in der Steinzeit nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen gejagt haben. Ihre Forschungsergebnisse räumen mit der Mär vom Jäger und Sammler auf. Dieses Markenzeichen des genetisch angeblich auch heute noch steinzeitlich geprägten Männerverhaltens wird damit ad absurdum geführt. Und ich selbst habe jetzt erlebt, dass nach mehreren Monaten Frausein mein Testosteron-Pegel drastisch eingebrochen ist. Es gab keinen anderen Grund dafür, als die Annäherung an die weibliche Lebensweise in meinem Selbstversuch. Nur durch mein äußerliches Verhalten hat sich meine innere, physische und psychische Konstitution geändert. Welche Auswirkungen hat dann die geballte Wucht unserer Geschlechterkultur auf uns Menschen gehabt? Sind Männer heute vielleicht nur deswegen so testosterongesteuert und unbegabt in Empathie, sind Frauen nur deswegen in manchen Wesenszügen angeblich anders, weil Religionen und Gesellschaften von ihnen über Generationen hinweg ein bestimmtes Rollenbild abverlangt haben? Hier müssen wir ansetzen.
Ich glaube daher nicht an die Ungleichheit, sondern an die Gleichheit der Geschlechter. Das ist naheliegender, und es ist anspruchsvoller. Die Herausforderung, auf Augenhöhe miteinander umzugehen, mit allen Sinnen, Gefühlen, Möglichkeiten, nicht nur mit den weiblich oder männlich zugeordneten, sondern beide Geschlechter als vollständige Menschen, empfinde ich als natürlicher, und uns Menschen angemessener. Das erfordert aber auch den Mut der Männer, sich dafür zu öffnen. Hierfür müssen wir die Geschlechterrollen aufbrechen. Eine Identitätsfindung für die moderne Frau und den modernen Mann kann nicht darüber gehen, wieder in alte Rollenbilder zurück zu kehren. So wirken aber die Männer auf mich.
Meine fast zweijährigen Erfahrungen, als Frau zu leben, haben mein Weltbild nicht nur ins Wanken gebracht, sondern komplett zerstört. Die Angriffe gegen mich kamen kaum von den Frauen, sondern von den Männern, fast von allen. Ich wurde nicht etwa vom sozialen Rand aus attackiert, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Diejenigen, welche die Aufgeschlossenheit und die Toleranz wie Qualitätsschilder vor sich hertrugen (fast nur Männer tun so etwas), die Studierten, Wissenden, über die Wirtschaft und unsere Kultur diskutierenden, sie waren plötzlich meine Feinde. Sie verfügten offenbar über kein Klischeebild, in das ich passte.
Jetzt bin ich dabei, mir ein neues Verständnis für meine Welt aufzubauen. Eine meiner dringendsten Maßgaben ist dabei die Gleichheit von Mann und Frau. Ich verstehe, dass man Angst vor ihr hat. Daher bin ich ganz vorsichtig, denn bei fast jeder Überlegung stolpere ich über irgendein hinderliches Klischee. Als mich meine Frau zum ersten Mal als Frau erblickte, war sie zutiefst erschrocken. Ihre erste Frage war: „Aber ich habe doch einen Mann geheiratet.“ Als zweites sprachen wir über ihre Angst. Könnte sich die Polarität zwischen uns auflösen? Verlieren wir den Genuss an unserem Sex? Würde unser Beziehungsleben langweilig und öde werden? Auch viele meiner Freundinnen waren in Sorge: „Kannst Du Deine Beziehung aufrecht erhalten, so ganz ohne diese duale Reibung?“ Stattdessen wurde alles immer besser.
Das ist die größte Befürchtung, die derzeit zwischen Männern und Frauen vorherrscht: Wenn die Geschlechtergrenzen tatsächlich verschwimmen, wenn Männer ihre Rolle nicht mehr leben können, was bleibt dann übrig? Bekommen wir eine androgyne Gesellschaft, nähern sich unsere Beziehungen zu sehr einer Art Gleichgeschlechtlichkeit? Und was geschieht dann mit den Männern? Bereits jetzt überlegen Wissenschaftler, ob die weltweit zu beobachtende, drastische Verringerung der Spermienqualität nicht nur auf Umweltgifte, sondern auch auf die Identitätskrise der Männer zurück zu führen ist. Ich teile diese Befürchtungen nicht. Frauen können heute Hosen und kurze Haare tragen, sich wie Männer geben, ohne deswegen als weniger vollständige Frauen zu gelten. Warum sollte das gleiche umgekehrt nicht auch für Männer gelten? Nur: Irgendeine Identität brauchen sie schon.
In der Fähigkeit, Leben zu schenken, begründet sich nicht nur der gravierende Unterschied zwischen Mann und Frau. Im Umgang der Frauen damit, und was sie für sich daraus gemacht haben, wurzelt auch die Identitätskrise der Männer. Was sollen sie denn heute machen mit ihrem Leben? Ihre ursprüngliche Aufgabe, Frau und Familie zu ernähren, existiert nicht mehr. Ihr Anspruch, im Alleingang die Welt zu retten, wird ihnen immer weniger zugestanden. Die Frauen können und tun heute alles selbst. Sie können sich sogar selbst ernähren, könnten für die Fortpflanzung auf Spermienbanken zugreifen. Die Männer haben sich ersetzbar gemacht. In der von ihnen beherrschten Welt haben sie mit äußeren Werten versucht, ein gutes Leben zu definieren. Dieses Kartenhaus ist zusammen gebrochen. Wenn sie sich nicht selbst abschaffen wollen, müssen sie auf die Frauen zugehen und sich dem öffnen, was weiblich ist.
In dem wichtigsten Unterschied zwischen Mann und Frau könnte daher eine Chance liegen. Eine zum Umdenken. Zur Kernsanierung der Rollen von Mann und Frau. Eine zur Wertschätzung der weiblichen Rolle nicht nur in dieser Gesellschaft, sondern in dieser Welt, diesem Leben, diesem Universum. Dafür müssen wir aber einige Gedankengebäude auf den Kopf stellen. Frauen gebären Kinder, dieser Rolle gehört Platz 1 im gesellschaftlichen „Und was machst Du?“-Ranking. Zudem gehört manchen Philosophien der Kampf angesagt, die immer wieder Zement auf die bestehenden Geschlechterrollen gießen. Der Mensch ist einfach nicht aus der Rippe Adams geschnitten worden, sondern wenn, dann aus der von Eva. Und die Mutter Gottes könnte auch die Mutter Göttin gewesen sein – wer sagt, dass Gott ein Mann war? Ja, sogar Männer werden von Frauen geboren. Nur wenn sich die Männer der ihnen zueigenen Weiblichkeit öffnen, finden sie ihre Identität wieder. Insofern ist Weiblichkeit ein Schlüssel. Denn Leben ohne Herz und nur durch Verstand geht mit den Frauen eben nicht. Das müssen die Männer endlich verstehen.