Christian Seidel: Lukas, mir geht das entsetzlich auf den Geist. Eigentlich bestehen die täglichen Nachrichten doch nur noch aus Gezetere, in denen alle den Mund unglaublich weit aufreißen. Sie brüllen das Geheul der anderen, sie johlen im Kanon. Vielleicht haben sie alle vom Mundaufreißen so eine Art Sperrkrampf in der Kiefermuskulatur, wie wir es vom Zahnarzt kennen, wenn er einmal besonders lange herumgebohrt hat. Manchmal müssen die Zahnärzte gar nicht so lange bohren. Sie tun es aber trotzdem, weil sie mehr Gebühren kriegen, um es sehr verkürzt auszudrücken. So erscheinen mir all die Mundaufmacher als Leute, die mit ihren Worten irgendwie profitieren wollen. Falsche Worte. Sie tönen herum, doch wenn es um den einen wahren Satz geht, den Du angesprochen hast, und nach dem wir uns alle sehnen, bleibt ihre Klappe geschlossen. Der neue FDP – Chef ist Hobby – Bauchredner, habe ich im Fernsehen gesehen. Ich habe mich sofort gefragt: Ist das erlaubt, geht das, daß ein Hobby-Bauchredner Parteichef wird und vermutlich sogar Vicekanzler? Lieber Lukas, ich glaube, mein Gehirn ist für die Beantwortung Deiner sehr berechtigten Frage fast übersensibilisiert. Meine Sehnsüchte zerren mich eigentlich zu einer fatalen und radikalen Antwort. Soll ich sie sagen? Gibt es bei uns noch die Freiheit dazu? Ich weiß auch das nicht wirklich. Der Unterschied zu früher ist ja, was das Mund aufmachen betrifft, der: Früher bezog das offene Wort seine Stärke daraus, daß es einmalig war. Daraus bezog es seinen Wert. Es machte also schon allein deswegen Sinn, den Mund aufzumachen, auch, wenn nichts daraufhin geschah. Sein Boden war die Erinnerung im menschlichen Gedächtnis. Heute muß man sich an Worte nicht mehr erinnern. Sie stehen doch überall, in jeder Kombination. Die virtuelle Welt hat sie aus uns herausgesaugt. Unklar ist mir, lieber Lukas, wie wir angesichts dieser Entwicklung in 100 oder 500 Jahren leben werden!?