“Der Freiheitsmann” – Versuch über eine Bedrohung

Volljährig zu werden, bedeutete für mich, endlich ‚frei‘ zu sein. Erwachsen. Einer von den Großen, denen, die alles dürfen. Laut Gesetz darf ich als Volljähriger selbst entscheiden, was ich tue. Das kam mir vor wie die ultimative Freiheit. Ich habe den Grad meiner Freiheit immer durch das Maß der Verbote definiert, von denen ich umgeben war, und nicht durch das, was mir alles frei zu Füßen gelegt war. Ich hatte als junger Volljähriger versucht, so zu leben, wie ich wollte, und bin schnell wieder an diese Grenzen, Verbote und Gebote gestoßen. Aus allen möglichen Richtungen schwirrten sie auf mich zu, von innen, von außen… Und da ich zum Zusammenleben gezwungen bin als Mensch unter Menschen, habe ich – oft gegen meinen Willen – begonnen, mich mit all diesen Bedingungen meiner Freiheit zu arrangieren. Das musste schnell gehen, denn das Tempo dieser Zusammenleben-Welt, in die ich mich fügen musste, war atemberaubend schnell. Heute reden wir plötzlich wieder über die Freiheit. Im Facebook chatte ich immer öfters über die gefährdete Demokratie. In meinem Buch musste ich mich oft disziplinieren, sonst hätte ich noch viel mehr über Freiheit & Co geschrieben, als ohnehin schon drinnen steht. Ich bin überzeugt davon, dass wir uns am Ende einer Phase in der Entwicklung unseres demokratischen und freiheitlichen Systems befinden. Irgendetwas ist zum Stillstand gekommen. Wir wachsen nicht mehr. Innerlich. Das ist doch fühlbar. Ich empfinde meine Freiheit deswegen in Gefahr. Das fühlt sich so an, als würde mir meine Volljährigkeit verloren gehen können. Das Gefühl, tun und lassen zu können, was ich will. In Frankreich wurde heute das Kopftuchtragen verboten. Weil es angeblich ein Zeichen des fundamentalen Islamismus sei. Das ist eine Kampfansage gegen die Freiheit. Ist es nicht jedem Menschen selbst überlassen, wie er sich kleidet? Wann kommt das Gebot für gute Frauen, Miniröcke zu tragen? Wann dürfen Männer keine Bärte tragen, weil das ebenfalls zur Assoziation einer fundamentalistischen Gesinnung anregt? Darf man in Zukunft nur noch im Geheimen ein Moslem sein? In Ungarn darf man nicht mehr schreiben, was man will. Der ungarische Präsident, der dies mit aller Scheinheiligkeit verbockt, darf aber EU-Ratspräsident sein. Berlusconi dreht sich gerade wieder aus seiner Falle heraus. Und kein Politiker kräht all diesem Treiben irgendeinen Protestschrei nach. Sie kümmern sich vielmehr medienwirksam um das, was aktuell ist, diese Politiker. Gott sei Dank wechselt die Aktualität mittlerweile fast ständig, so müssen sie kaum mehr ein Thema kontinuierlich vorantreiben. Ich gehe wegen diesem Zustand nicht mehr zur Wahl. Das wirft man mir vor. Sie sagen, ich gefährde die Freiheit, weil die sich in der Möglichkeit, zu wählen, ausdrücke. Doch was soll ich denn wählen? Diese feixenden Gesichter all dieser Aktualitäten, deren Mundwinkel je nach Ereignis nach oben oder nach unten zucken? Diese Marionettenkasperls, bei denen man sich darauf konzentrieren muß, dass man nicht die Einbildung bekommt, dass ihre Gesichtszüge an Fäden hängen und ihre Worte nicht ihre eigenen sind, sondern vielleicht eingeredet? Jetzt ist ein neuer Mann der Chef der FDP geworden, dessen erstes Informationsteil, das die Turbokommunikation an mir vorbeigeschleudert hatte, mir sagte, der neue Hoffnungsträger sei ein Hobby-Bauchredner… Please, give me a break! Pause!

Die Aktualität wird doch längst nicht mehr von den Prioritäten unserer gesellschaftlichen Probleme bestimmt. Wie sollte das auch gehen. Wir haben keine Ziele mehr und nur mit Zielen könnten wir Prioritäten festlegen. Die Aktualität und damit die Prioritäten werden wird von den medialen Berichterstattungen geprägt. Und das mittlerweile maßgeblich durch die Internetkommunikation, die übrigens von keiner Instanz geregelt wird. Sie wirkt in einer eigendynamischen Weise so intensiv auf uns ein, dass sie unversehens und ohne, dass wir das ge-‚zielt‘ angestrebt hatten, zu einem festen Bestandteil unserer demokratischen Gesellschaft geworden ist. Durch diese eigendynamisch vor sich hinpochende Internet-Kommunikation können plötzlich, fast wie aus einer Wundertüte gezaubert, Revolutionen vom Zaum gebrochen, Politiker gestürzt und Volksabstimmungen durchgeführt werden. Unser Freiheitsgrad wird mittlerweile auch maßgeblich durch den Grad der Freiheit im Netz mit definiert. Deswegen muß sie voll erhalten bleiben. Doch wer führt uns dann in die Zukunft? Brauchen wir überhaupt jemanden? Wer steckt uns die dringend erforderlichen Ziele, die uns die Politiker nicht mehr stecken können, weil sie sich im Gängelnetz der Aktualitäten und ihrer Sirenen verfangen haben? Vielleicht werden Regierungsstrukturen als solches in Zukunft überflüssig. Vielleicht werden uns gut organisierte Administrationen genügen. In dem Zentrifugium dieser Fragen und Ideen entsteht meine Angst um die Freiheit. Sie gründet auf einer diffusen Halt- und Orientierungslosigkeit und dem hängeringenden Gefühl, nicht zu sissen, wie ich dem Ausdruck verleihen soll, ohne daß es als Tropfen in den Wortlawinen verschwindet. Mein Gefühl zu unserer Freiheit gleicht dem zu einem Gericht, das ich zu oft gegessen habe: Ich schmecke seine besonderen Nuancen kaum mehr. Ich weiß es nicht mehr richtig zu schätzen, weil ich das Gegenteil, den Vergleich  nicht mehr kenne. Ich kenne nur Freiheit, sonst nichts. Unsere Freiheit ist inflationiert. Die Gefahr für unsere Freiheit liegt daher, das spüre ich, in mir selbst. In einer eigenartig unfaßbaren Form von Überdruß, für den mir keine Form des Protestes einfällt und ich sag es gleich: Ich hasse Trillerpfeiffen und lieblich-schörkelig, mit Kinderfarben bemalte Protestier-Transparente. Die Gefahr liegt in meiner versteckten, heimlichen Sehnsucht nach einem, der den Arm um meine Schulter legt und mir warmherzig sagt: Laß mal, relax, ich mach das schon. Die Volljährigkeit – was ist das schon? Noch immer stecken die Maßregelungen meiner Erziehung in mir drinnen und ihre Stimmen plärren in mir herum, manchmal ziemlich laut. Sie mahnen mich zur Vernunft: Du mußt dies, Du mußt das! Nein, das nicht! Vorsicht, das weißt Du in Deinem Alter noch nicht! Ich bin jetzt knapp über 50. Vorgestern bin ich mit einem 14-jährigen aus dem Taekwondo-Training zur U-Bahn marschiert. Er hat mich gefragt: „Sag mal, hast Du auch das gleiche Problem wie ich? Weißt Du, was Du mal machen willst, wenn Du mal groß bist?“ Ich bin stehen geblieben. Ich habe gedacht: Verdammt, nein, ich weiß es immer noch nicht! Wahrscheinlich bin ich tatsächlich noch gar nicht groß. Dann habe ich ihn aber – scheinbar verblüfft – gefragt: „Ich bin jetzt 1.87cm. Denkst Du, ich wachse noch?“ Der Alteherrenkalauer kam nicht an und insgeheim habe ich mich geohrfeigt. Denn meine Freiheit wäre es gewesen, meine Berührung zuzulassen. Wenn ich diese Option nur schnell genug erkannt hätte! Aber das habe ich mich zuerst nicht getraut. Wegen diesen verflixten plärrenden Stimmen in mir, diesen Spinnern, die mir in der einen Sekunde dies sagen und in der anderen das. Dann aber habe ich mich gegen diese innere Gewalt, die meine Freiheit bedroht, wieder einmal durchgesetzt und ich habe den Jungen neben mir angelacht. Ich habe begonnen, mich mit ihm über das Leben zu unterhalten, über das, was wir mal machen wollen später, und fast wären wir aus Versehen bis zur Endstation der U-Bahnstrecke gefahren. Das ist Freiheit. Dass ich immer denken kann, was ich will, und mich gegen meine inneren Spinner durchsetzen kann. Wenn das schwerer wird, verringert sich die Freiheit. Zurzeit wird dieses Durchsetzen schwerer. Ich glaube, wenn ich ganz ehrlich bin, so bin ich in meinem tiefsten Herzen noch ein Minderjähriger. Ein kleiner Wicht, der nicht weiß, was er mit diesem Riesentopf an Leben und Freiheit, der vor ihn hingesetzt worden ist, machen soll. Mir fehlt jegliche Erfahrung im Umgang damit, ich habe das nie gelernt! Freiheit ist so unendlich groß. Kann ich so groß sein, wie die Freiheit? Spätestens bei dieser Überlegung bekomme ich Angst vor diesem Mann, der seinen Arm um mich legen könnte. Er könnte ein Kasperl sein, oder ein Harlekin, einer, dessen Gesichtszüge an Fäden hängen.

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