oder: warum der Weg des Herzens ein menschliches Naturgesetz ist, gerade an Tagen wie diesen
So weh es auch tut, aber es macht keinen Sinn und es bringt uns nicht weiter, wenn wir nur in Form von Widerstand, Abwehr, Gegenreaktion, Aufrüstung, Verschärfung und Rachegelüsten auf die unfassbare Anschlagserie reagieren, mit welcher der islamistische Terror Europa überzieht. Sicher ist es nötig, den Terror auch mit aller Gewalt abzuwehren. Dass dies aber nicht gelingt und nicht die wirkliche Lösung ist, kann man ja mittlerweile deutlich erkennen. Umso mehr ist es entscheidend, ihn an den Wurzeln zu bekämpfen. Ich bezweifle aber, ob diese Wurzeln bereits in ihrem Ursprung geortet sind, denn da müssten wir Europäer uns selbst in den Spiegel sehen – und tun wir das? Da die Attentäter, sowie die dazu Verführbaren, nur Männer sind, hier ein Versuch, sich dem Problem am Beispiel der Dominanz der männlichen Geschlechterrolle anzunähern:
Unsere gesamte Welt hat sich den geschlechtlichen Rollenprinzipien und damit der männlichen Geschlechterrolle untergeordnet. Ihre Werte orientieren sich besonders an leistungsorientierten, beruflichen und narzisstischen Maßstäben. Männer haben ein stark ausgeprägtes Geltungsbedürfnis. Intellektuelle Werte sind in den letzten Jahrzehnten im Zuge der Globalisierung stark in den Hintergrund gerückt. Heute gilt nur derjenige als etwas, der einen Job hat (oder Geld). Wer keinen Job hat, gilt – etwas überzogen gesagt – im Lichte der heutigen, extrem kapitalistisch geprägten Imagewelten quasi als nichts. Im Problem, einen guten Job zu bekommen und zu behalten wurzeln die schmerzhaftesten Identifikationsprobleme zahlreicher Männer, vor allen Dingen jener mit sozialen Sorgen und mit Migrationshintergrund.
Die Überläufe junger Männer zu radikal-islamistischen Organisationen sind auch eine Folge ihrer Ohnmacht, nicht zu einer Gesellschaft gehören zu können, die sich nur über diese männlich ausgerichteten Maßstäbe wie Beruf, Erfolg, viel Geld und Gewinn definiert und in welcher die Familie aber als Wert zurück steht. Viele der jungen, moslemischen Männer identifizieren sich aufgrund ihrer traditionellen und religiösen Herkunft mit einem fundamentalistischen Männerbild, in dem die hier geschilderten Geschlechterklischees in einer noch viel radikaleren Form verankert sind, als bei uns. Bei ihnen stehen die Familie, sowie ihre Kinder und die Sorge um sie, ganz oben. Bei uns haben Familie und Frauen im gesellschaftlichen Standard nicht diesen hohen Rang. Die männervolle Management-Etage rangiert höher. Nur werden die Frauen bei uns zumindest vom Gesetz her geachtet, wengleich es in der Praxis mangelt. Bei ihnen, den Gläubigen des fundamentalistischen, durch den Islam inspirierten Männerbildes, wird aber die komplette Weiblichkeit und alles, was sie ausmacht geradezu totalitär unterdrückt. Dazu zählt Schwäche. Ein Mann, der kein Geld und keinen Beruf hat, gilt als schwach, und einer der als schwach gilt, ist kein vollwertiger Mann.
Wenn die moslemischen Männer nun gerade in unserer Welt keine berufliche Wurzeln schlagen können, so sind sie deswegen auch nicht in der Lage, ihr Rollenbild in einer Welt als Mann auszufüllen, die ihnen mit all dem Freiheits-, Gleichstellungs- und Demokratie-Gedöns beständig vorgaukelt, dass dieses doch möglich sein muss. Es ist für sie aber nicht möglich, das fängt bereits bei der Bildung und den Ausbildungschancen an. Besonders ihr wichtigstes Rollenbild können sie nicht respektabel ausfüllen: das ausschließlich männliche Rollenbild des Familienoberhauptes.
Unsere Männer dagegen sind nicht mehr zwangsläufig Familienoberhäupter. Das begreifen diese moslemischen Männer vielleicht als Perversion, oder es ist ihnen zumindest unverständlich. Ich frage mich, ob es unseren Männern überhaupt verständlich ist. Zusätzlich finden diese anderen Männer aber keinen Weg, sich ausreichend beruflich zu integrieren, um zumindest zu Hause so leben zu können, wie es ihrer Tradition entspricht: Als Familienoberhaupt, das erst dann als solches respektiert wird, wenn es für seine Familie sorgen und diese beschützen kann. Erst recht bekommen jugendliche mit Migrationshintergrund von unserer Welt, welche die ihre dominiert, keine ersatzweisen und erstrebenswerten Visionen und Perspektiven angeboten, in welchen sie sich zumindest ideell verankern könnten. All dieses Manko empfinden sie als eine empfindliche Verletzung ihrer eigenen Geschlechterrollen als moslemische Männer und ihrer Kultur als Gesamtes.Jugendarbeitsl Photo Menschen
Unsere Welt signalisiert Freiheit und Gerechtigkeit. Da wir sie aber an den Vorzügen derselben nicht teilhaben lassen, obwohl wir es könnten, empfinden sie, dass wir sie belügen und dass sie die Leidtragenden eines feindlich gesinnten Unrechts sind. Daraus leiten sie das Recht ab, sich zu wehren und zu rächen. Indem wir ihnen aber rein gar nichts anbieten, außer heillos verhedderte und sich endlos in die Länge ziehende Migrationsdebatten, spiegelt unsere Gesellschaft diesen Menschen geradezu auf erbarmungslose Weise deren Schwäche und Versagen, welches eigentlich unser Versagen ist, zurück. Für sie ist es das Versagen ihres eigenen männlichen Rollenbildes. Bei uns ist es das Unvermögen, die eigene Unfähigkeit einzugestehen, damit umgehen zu können. Das könnte nur Öffnung sein, unsere Gesellschaft verschließt sich aber stattdessen. Das wird von ihnen erschwerend, und im Gesamten als ein tief seelisch verletzender Übergriff durch uns auf ihr intimstes Inneres wahrgenommen. Von unseren Reaktionen auf Anschlag zu Anschlag mehr und mehr. Alls dies wirkt in ihrer Persönlichkeit noch viel verletzender, als alltägliche Diskriminierungen und widerfahrene Ungerechtigkeiten. An dieser Stelle empfinden sie unsere westliche Gesellschaft als Täter, der von außen her kommend ihr (nicht nur religiös geprägtes) Selbstbild in ihrem intimsten Inneren misshandelt. Aus dieser Verletzung und Missachtung kommt die martialische Dimension ihrer Rachegefühle. Hier wurzelt die Gefahr, besonders bei unbedarfteren und lebensunerfahreneren jüngeren Männern, dass ihr Selbstverständnis mit radikal-islamistischen Ideologien zu korrelieren beginnt. In diesen fanatischen Terrorzirkeln finden sie mit ihrer verletzten Männerseele sofort wieder ein zu Hause. Die Unterdrückung der Frauen und die Ausgrenzung von Weiblichkeit ist wieder geregelt, automatisch und in steinzeitlicher Form, und schon sind sie wieder wer. Alleine deswegen funktioniert ihre Identifikation als Männer sofort besser. Die im Vergleich mit unseren Werten auseinander gedrifteten Projektionspegel ihrer inneren und äußeren Weltsicht überschneiden sich innerhalb ihrer totalitären Welt wieder. Zudem genießen sie im radikalfundamentalistischen Islamismus bereits alleine deswegen Ansehen, weil sie einem Gottesverständnis huldigen, in dem Gott als eine Art unantastbarer Mann beschrieben wird. Sie können nur mit einem aufgeblähten Männerbild in gewisser Weise ein Teil Gottes sein. Und in der Huldigung an diesen männlichen Gott können sie nun die archaischste aller männlichen Rollen einnehmen, welche das Männerbild zur Verfügung stellt: Die Rolle des zornig wütenden und sich rächenden Helden, der sein Leben für einen angeblich höheren Zweck opfert.
Was wir bei all dem trotz berechtigter Wut und Verzweiflung sehen müssen, wenn wir von der Freiheit sprechen, der Demokratie huldigen und Gleichstellung, sowie Toleranz hoch stellen: Das Leben all dieser verführbaren und tief frustrierten, junger Männer ist genauso vollständig und lebenswert, wie unseres. – Hilfreich wäre es, dabei unsere gesamte Welt als Gesellschaft anzusehen, und nicht nur unseren Staat oder unser Land. Letzteres wäre jenes Denken von gestern, in welches sich nunmehr beispielsweise die Engländer zurückziehen. Wir haben aber mit der Globalisierung begonnen, die EU und Europa sind ein Fakt. Bevor diese von uns geschaffene Welt-Gesellschaft diesen jungen Menschen aber keine angemessenen Lebensräume anbietet und ihnen keine gleichwertigen sozialen Lebenschancen einräumt, worauf sie ein volles Recht haben, wird sich ihr Rachefeldzug weiter entfalten. Und noch schlimmer: Indem wir diese Menschen in ihrer Verletzung alleine lassen, entsteht in ihnen eine kollektive Traumatisierung, die sich über Generationen hinweg fortsetzen kann. Wer also glaubt, man könne dem Problem nur mit Waffengewalt, mit politischen Gewehr-Sprüchen oder durch Ausgrenzung entgegenwirken, irrt sich. Es handelt sich doch um eine menschliche Verletzung, die nicht nur etwas mit Islam nichts zu tun hat. Die Ursachen dieses Terrors wurzeln – unabhängig von den instrumentalisierenden Rädelsführern im Hintergrund – nicht nur im Islamismus, sondern auch in unserer Unfähigkeit, mit den Menschen anderer Kulturen auf Augenhöhe umzugehen, sie zu akzeptieren und voll und ganz und mit allem Respekt zu integrieren. Da war das Frankreich, das seinen algerischen Zuwanderern aus der ehemaligen französischen Kolonie keine anständigen Integrationsmöglichkeiten gegeben hatte, obwohl sie französische Pässe besaßen. Da ist das England, das mit seinen skrupellosen Finanzinstitutionen stark zur heutigen sozialen Schieflage besonders in Europa beigetragen hatte, und sich nun davonstehlen will. Da sind die Politiker, die ratlos am Rande des Schauplatzes ihrer selbst eingebrockten, europäischen Tragödie stehen und sich mit markant klingenden Sprüchen selbst an Tagen, wie dem heutigen, an dem unter den 84 Toten in Nizza alleine zehn Kinder sind, Wählerstimmen sichern wollen.
Wir haben all dies mitverursacht, und daher müssen wir auch an der Heilung dieser Situation sorgsam mitwirken. Es ist eine Situation des Miteinanders, nicht des Gegeneinanders, um die es dabei geht. Wir dürfen nicht wie Kriegsherren, sondern müssen wie wirkliche, uneigennützige Helfer agieren, die ein in alle Richtungen wirkendes, integrierendes (Heil-)Konzept entwickeln und in die Tat umsetzen. Ärzte versuchen jeden zu kurieren. Es müssen daher endlich Möglichkeiten geschaffen werden, die den jungen Frauen und Männern von heute, allen, auch und gerade muslimischen Männern, berufliche Perspektiven und Lebensvisionen innerhalb unserer Gemeinschaft anbieten. Die Voraussetzung hierfür ist eine bedingungslose Öffnung unserer Herzen. Wie sonst soll das gehen? Der Weg des Herzens ist kein esoterisches Anliegen, er ist ein menschliches Naturgesetz.
Bei allem Recht und aller Pflicht, die Täter und Rädelsführer solch grausamer Attentate zu verfolgen und zu verurteilen, dürfen wir niemals die Fähigkeit verlernen, unsere Herzen sperrangelweit zu öffnen – besonders auch für diejenigen, die heute noch keine Attentäter sind, aber die welche werden könnten, wenn sich ihre Frustration und ihre Depression ausweitet. Doch welcher Staatschef denkt über so etwas nach?
Und obendrein hat dies sehr schnell zu erfolgen. Denn andernfalls werden wir mit den unabsehbaren Auswirkungen dessen, was wir an diesen jungen Menschen mitverschulden, noch lange zu tun haben. Auch wenn es uns nämlich gelingen sollte, ihnen respektable Lebensräume zu ermöglichen, so werden solche Kollektivtraumas – sollten wir noch lange warten – weit darüber hinaus wirken – und noch viele unschuldige Opfer verursachen, für die wir Rosen an Straßenränder legen, und auf die sich heute in Nizza mein gesamtes Mitgefühl so sehr konzentriert.