Zudemokratisiert

Gedanken zur bevorstehenden Volksabstimmung “Stuttgart 21”:

Am kommenden Sonntag, den 27. November 2011 wird in Baden Württemberg das Stuttgarter Bahnhofsproblem zu Ende gewählt. Dieses Problem ist seit längerer Zeit sowieso seiner Konkurrenzschwäche gegenüber lauteren Aktualitäten erlegen. Im Vergleich dazu erscheint es als vergleichsweise marginal. Ich hab mich aber trotzdem nun mal gefragt: Was würde ich wählen? Den Bahnhof oder – ,tja, was eigentlich ist die Alternative? Kein neuer Bahnhof? Ein halber, ein neuer, ein abgespeckter? Den jetzigen erhalten? An die Bahn die angedrohte 1 Milliarde Schadenersatz zahlen, falls das Projekt scheitert? Oder in Kauf nehmen, daß der Bahnhof gebaut wird und dafür viele Gemeinden aufgrund der hohen Baukosten krasse Budgetkürzungen hinnehmen müssen? Informationsfragmente schwirren wieder einmal herum und behindern eine solide Meinungsbildung. Es drängt sich der Gedanke auf, daß das wirkliche Problem am kommenden Sonntag ein ganz anderes ist.

 

Stuttgart 21, das steht schon mal fest, ist ein klarer Fall von Demokratie: Tausende haben schließlich demonstrieren dürfen. Das ist ja schon einmal was im internationalen Vergleich, siehe Russland, siehe China. Monatelang, jahrelang durften sie es. Am Schluß waren es Zehntausende. Das war auch deswegen besonders aufregend, weil bei uns seit vielen Jahren überhaupt einmal wieder größere Massen auf die Straße gingen und gegen etwas waren. Zeitweise wirkten die Aufmärsche allerdings wie Schrebergartendemonstrationen. In dieser  Zeit wurden sie dafür politisch und medial gewürdigt wie ein Traumzustand demokratischer Aktivität. Doch plötzlich brach dieses wohlgeordnete  Wimpelschwenken und Menschenkettenbilden auseinander. Das fürs Schwabenland überraschende Demonstrierphänomen lief eigenartig aus dem Ruder: Es hörte nicht mehr auf! Normalerweise hören Demonstrationen bei uns doch einfach irgendwann sang- und klanglos auf, so, als fast wäre nichts gewesen.

 

Doch dieser Bahnhof wurde mit einem Mal zu einem Schmelztiegel für ein tiefsitzendes Unbehagen in unserer Gesellschaft. Man konnte den Stuttgarter Demonstranten nicht mehr die üblichen, herunternivellierenden Stempel wie „die Alternativen“, „zu respektierende Randgruppen“, „pubertierende Studenten“ oder „schwarze Blöcke“ aufdrücken. Schließlich marschierten plötzlich auch Menschen auf, von denen man niemals so etwas gedacht hätte: Alte, Mütter, Omas, Rentner, CDU – Wähler… Die Straßenaktionen gewannen an Größe und an Vehemenz. Weit über die Grenzen dieses Bundeslandes hinaus spürte man: Da geht es wohl um mehr, als um diesen Bahnhof. Doch nachdem sie ewig gegen das Bauprojekt und die damit verbundene Informationspolitik demonstriert hatten, fühlten sich die Menschen irgendwann gegängelt und nicht gehört, weil einfach nichts passierte. In ganz Deutschland verbreitete sich ein Gefühl der Solidarität. In ihm schwelte der Protestvirus unseres Bedürfnisses nach Erneuerung und  Reformierung.

 

 

Bei dem, was sich in Stuttgart abspielte und was bis heute unter dem Label Stuttgart 21 firmiert, dreht es sich schon lange nicht mehr nur um diesen Bahnhof. Genauso wenig, wie es sich in anderen Bereichen längst nicht mehr nur um diese Banken alleine dreht, oder diese Politiker, diese Parteien, diese soziale Ungerechtigkeit. Und es sind längst nicht nur diese Neonazis das eigentliche Problem, auch wenn sie mittlerweile jahrelang morden können, ohne aufzufallen.

 

Stuttgart 21 steht stellvertretend für eine breite Protestbewegung in Deutschland, die nicht weiß, wohin sie mit ihrem Protestbedürfnis greifen soll. Gegen was? Und wie, wenn knappe Worte für dieses “dagegen” nicht ausreichen, weil es so komplex ist? Der Protest ohne Worte schlägt sich nicht umsonst häufig in Schweigemärschen, Silentmobs, aktiven Nichtwählern und anderen Protestformen nieder, die an den gesunden Menschenverstand appellieren, der sagt: Ihr wisst es doch alle, also warum handelt Ihr nicht!?

 

Der Bahnhof in Stuttgart ist lediglich ein Auslöser. Er ist eines von vielen Symptomen einer tieferliegenden Krankheit. Der Franzose Stephanè Hessel erzählt von diesem Gefühl tiefsitzender Empörung in seiner Publikation „Indignez-vous!“ („Empört Euch!“) so wunderbar, in diesem dünnen, aber doch so grandios ungeschliffenen und kraftvollen Werk, das zunächst niemand anfassen wollte, für welches sich kein Verlag interessierte und welches, nachdem der alte Mann es an Tankstellen zu verkaufen begann, von Millionen gelesen wurde.

 

Trotz der teilnehmenden Alten und Mütter eskalierten in Stuttgart die Demonstrationen damals. Daran waren auch die brachialen Polizeieinsätze schuld, für die sich später natürlich keiner verantwortlich sah und für die es logischerweise sofort tausend und einen ‚zwingende Gründe‘ gab. Und während ich über diese kommende Volksabstimmung und deren heiligenscheinartige Demokratieverbrämung nachdenke, erinnere ich mich an das berühmte Pressebild des blutüberströmten, älteren Mannes, dem sein Auge heraushing, nachdem er den Strahl eines Wasserwerfers direkt ins Gesicht geschossen bekommen hatte. Irgendwann später einmal las ich in einer kleinen Meldung, daß der Mann seitdem fast blind sei. Eigentlich hätte er nie demonstrieren wollen, meinte er. Aber bei dieser Bewegung werde er weiter mitmachen, weil er seiner tiefsitzenden Empörung Ausdruck verleihen wollte.

 

Als nach den Straßenschlachten schließlich alles völlig verfahren war und nachdem die Verantwortlichen oft genug betont hatten, daß, egal was komme, dieser Bahnhof gebaut werde, wurde Deutschlands bester Schlichter eingesetzt, Heiner Geißler.  Der einstige Protest mündete nun in einem Gewurschtele von Diskussionen, Debatten und Stellungnahmen, bei denen selbst Beteiligte kaum mehr durchblickten. Währenddessen wurde immer an irgendwelchen Baustellen des Projektes weiter gebaut.

Rückblickend kommt mir die Assoziation, als wäre hier eine gewaltige, demokratische Walze in Gang gesetzt worden sein, unter deren erdrückendem Gewicht sich all das aufzulösen begann, was vorher gesprossen war. Die übliche Multiplikation der Worte und eine unentflechtbare Verknotung von Wortwindungen hatte begonnen. So wie das oft der Fall ist, wenn Probleme zum Himmel stinken.

 

Stuttgart 21 begann zu nerven und interessierte bald nicht mehr.  Das war der richtige Zeitpunkt für den demokratischen Schachmattzug:  „Volksabstimmung!“

 

Die Pro – und Contra – Aspekte des Debakels erscheinen heute nach dem Schlichtungs- und Nivellierungsprozeß nur noch verschwommener und verwirrender. Es dreht sich um wirtschaftliches Mithalten, um diffuse Milliardensummen, Verluste und Einsparungen, halsbrecherische Prozentrechnungen, angenommene Schäden und um alle mögliche Prinzipienreitereien. Es ist ermüdend, sich das alles so reinzuziehen, wie das ein aufrichtiger Volksabstimmer eigentlich müßte.  Aber wer wählt heute schon noch so.

 

Um was geht es denn bei dieser Volksabstimmung nun wirklich? Es dreht sich mittlerweile nur noch am Rande um ein hochmodernes Bahnhofsprojekt, welches im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Entwicklungsnotwendigkeiten des Standortes Stuttgart möglicherweise gar kein so unsinniger Ansatz  ist. Doch diese Debatte ist passè. Für kommenden Sonntag erscheint es so, als würde da ein Bedürfnis nach Gehört werden und Erneuerung auf der einen Seite und auf der anderen Seite ein desaströses, politisches Versagen, nämlich komplexe Planungen verständlich an die Bevölkerung zu kommunizieren, zudemokratisiert werden. Denn anschließend werden sich die Repräsentanten die Hände schütteln, sich mit tolerantem Blick vor die Kameras stellen und genau das sagen: Das war Demokratie! Jetzt ist alles in Ordnung!

 

Das Ergebnis der Wahl wird zweifellos sein, daß der Bahnhof gebaut wird. Er wird ja bereits gebaut. An ihm wird bereits seit der Schlichtungsgespräche unbeirrt weitergebastelt. Hat mal jemand überprüft, ob er nicht vielleicht schon fast fertig ist? Sie hatten es ja bereits gesagt: Er wird gebaut, komme, was wolle. Alleine diese Gewissheit würde mich, wenn ich als Münchner mitwählen dürfte, vielleicht dazu verleiten, mir diesen Aufwand am kommenden Sonntag ganz zu sparen. Schließlich fehlt bei dieser Volksabstimmung mit Sicherheit auch das Feld für das vielleicht wichtigste Stimmkreuz, nämlich eine politische Klasse abzuwählen, welche ihre Fähigkeit einer konstruktiven Konfrontation auf Augenhöhe mit dem Volk verloren hat.

 

Diskussionen und Wahlen alleine machen noch keine Demokratie aus. Volksabstimmungen auch nicht. Sondern erst das Zulassen, die Wertschätzung und die Auseinandersetzung mit ernstzunehmenden Alternativen. Das benötigt auch Courage. Wo findet man die heute in der politischen Welt? All dies gedeihte in Stuttgart dank der Initiative vieler Menschen, die ihre Meinung auf die Straßen trugen. In den Wahlurnen kommenden Sonntag wird dieser Geist erstickt.

 

In diesem Sinne empfinde ich diese Volksabstimmung eher als Volksquälerei.

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