Die Sachlichkeit von Osama Bin Ladens Rachetod

Rache bedeutet die Vergeltung von ‘Gleichem mit Gleichem und mehr, viel Schlimmerem’. Es gab einmal eine Zeit, in der haben Philosophen und weise Menschen für unser Leben bestimmte Maximen festgelegt. Die religiösen Schriften des Sanskrit, der Baghavadgita ( ca. 1000 – 1500 J. v. C), die Reden Bhuddhas (ca. 500 J. c. Chr), schließlich die jüdisch-christlichen Schriften und viele mehr haben bereits vor Jahrtausenden tiefgreifende Ressentiments gegen das Phänomen der ‘Rache’ entwickelt. In den Gesellschaftstheorien und Lebensweisheiten großer Philosophen und Staatswissenschaftler wurde die Rache bereits wenige hundert Jahre nach Christus als ‘verwerflich’ bezeichnet, weil sie nur auf der Basis eines bereits vorhandenen Rechts- und Unrechtsverständnisses entstehen kann und sie sich in ihrer Ausübung zwangsläufig vollständig aus diesem Verständnis herauslösen muß. Insofern wurde die Rache als schädlich für die Rechtsstaatlichkeit einer solchen Gesellschaft definiert. Rache wurde schon vor Jahrhunderten als ‘unzivilisiert’ (Talmud, Bibel) und ‘unedel’ (Schiller) bezeichnet. Immanuel Kant forderte, daß Rache ‘durch geltendes Recht zurückgedrängt werden solle’. In ganz alten Racheverständnissen wurde die Rache nicht nur beim Täter, sondern bei dessen gesamter Familie gefordert. Es war sogar üblich, Kinder und Söhne zu gebären, nur damit weiterhin Rache geübt werden könne. Bis heute wird in manchen Familienclans verschiedener Völker oder Stämme diese prähistorische Form von Rache zelebriert, so beispielsweise in der Türkei oder in Afrika. An Osama Bin Laden, seiner Familie und einem nur schwer zu definierenden Umfeld von Zivilisten scheint offenbar eine ähnliche Form dieser Rache verübt worden. In diesem Falle durch die Vereinigten Staaten von Amerika. Das läßt sich auch nicht durch das Herbeizitieren des ‘Kriegsrechts’ oder anderer Ausnahmezustände anders beleuchten oder legitimieren. Bereits die willkürliche Definition einer fiktiven ‘Achse des Bösen’ durch den ehemaligen US-Präsidenten George Bush nach Bin Ladens 9/11 – Anschlägen und die unmittelbar daraus folgenden Militärhandlungen glichen den frühgeschichtlichen Rachefeldzügen verletzter Nationen, in denen unter Inkaufnahme praktisch x-beliebiger Kollateralschäden Rache an Tätern geübt wurde, Zivilisten gefoltert wurden, um an die Täter heranzukommen, soziale und wirtschaftliche Katastrophen in Kauf genommen wurden, nur um dem Gelüst der Rache zu frönen – und um unter diesem Vorzeichen vielleicht gleichzeitig darüber hinausreichendere Interessen zu verfolgen, die in der allgemeinen Racheblindheit keiner so schnell bemerkt. Der seit Jahrzehnten andauernde, blutrünstige Schlagabtausch zwischen Palästinensern und Israelis basiert fast nur auf der Rächung von Mordanschlägen durch weitere Blutgewalt. Interessanterweise ist genau dieser Konflikt die argumentative Keimzelle der Ideologie Bin Ladens gewesen. Und die friedensuchenden, diplomatischen Chefvermittler im Nahost-Konflikt, die nicht müde wurden, das Blutvergiessen zu verteufeln und zu beklagen, waren immer die USA selbst. Jetzt sind sie selbst Opfer der Lust an der Rache geworden. Ja, ich sage absichtlich ‘Lust’. Denn sogar Wissenschaftler (Zürich) haben mittlerweile festgestellt, daß die Rachlust im Gehirn die selben Drüsen Glückshormone in einem Umfang ausschütten läßt, wie ein sexueller Orgasmus. Vielleicht liegt darin der beängstigend kurze mitbegründet, warum sich ein gesunder, vernünftig denkender, mitfühlender Verstand in allerkürzester Zeit in einen martialischen Schlachter verwandeln kann. Sicherlich läßt sich aus der fernen Warte eines Laien und Unbetroffenen leicht über dieses Thema reden. Doch weiß ich wohl, daß mein Land, in dem ich lebe und dessen Staatsbürger ich bin, einst von einer derartigen Form der Blutrache verschont geblieben ist. Auf dem weitsichtigen und rechtstaatlich orientierten Umgang der Siegermächte mit einem der ungeheuerlichsten Verbrecherstaaten der Menschheitsgeschichte begründet sich die tiefgreifende Wandlung einer Gesellschaft, die heute zu den freiheitlichsten und humansten der Welt zählt. Die Pflicht unseres Landes ist es allerdings, im Angesicht seiner Geschichte für ein immerwährend pochendes Gewissen und Bewusstsein für das zu sorgen, was die unsäglichen Greueltaten des Hitlerregimes erst möglich gemacht hatte: Die Versachlichung des Tötens unter dem Alibi einer menschenfeindlichen, fanatischen Ideologie, in welcher ein ganzes Volk als ‘böse’ (evil) abgestempelt wurde. Die sicherlich unabsichtlich so pseudosachlich geratene Äußerung Angela Merkels, die  ‘Tötung Bin Ladens” einen “Erfolg” zu nennen, mag zwar rein faktisch in der Sache stimmen. Doch stört mich diese Sachlichkeit sehr und ich fände es tragisch, wenn dieser Äußerung nichts hinzugefügt würde. Denn ihr fehlt die Empathie für den über das Osama Bin Laden – Haßbild hinausgehenden, existentiellen Zusammenhang dieses Ereignisses. Wir vergessen, daß wir, jene Länder, die sich als freiheitliche, demokratische und den Menschenrechten verpflichtete Gesellschaften aufs Weltpodest gestellt haben, selbst die Vorbilder für eine Welt sind, in welcher sich vielerorts noch keine modernen Werte verankert haben. Mit solchen Taten und Äußerungen senden wir fatale Botschaften hinaus. Deutschland sollte dies auf Grund seiner Geschichte ganz besonders bewusst sein. Die Macht von Worten und die eigendynamische Entfaltung ihrer Bedeutungen war eine der Grundlagen des Nazi-Erfolges. Die Botschaften unserer Leitfiguren über eine Hinrichtung von solch geschichtlicher Tragweite klingen dagegen nicht vorbildhafter, als wie es die Gratulation zum Sieg bei einem Fußballmatch tut. Siehe die Bilder jubelnder und fahnenschwenkender Massen in den USA und andernorts nach Bin Ladens Tod. Vielleicht laufen nach Merkels Aussage plötzlich Menschen mit dem wirren Gedanken durch die Gegend, es könne sachliche Gründe dafür geben, die das Töten zu einem Maßstab des Erfolges erheben. Das darf nicht sein. Wir erheben den Anspruch, Vorbilder zu sein. Also müssen wir uns wie Vorbilder verhalten. Wenn wir unsere ethischen Maßstäbe so genau nehmen, daß wir einen zu Guttenberg wegen seiner gefälschten Doktorarbeit und seinem anschließenden Herumgedruckse (zurecht) aus dem Amt jagen, dann müssen unsere Maximen der menschlichen Gerechtigkeit auch im großen Weltszenario taugen. Sicherlich ist es nur schwer nachzufühlen, was für ein Leid über Menschen kommt, die Opfer der bestialischen Mordanschläge Osama Bin Ladens und seiner Schergen geworden sind. Was dieser Mörder und seine Handlanger getan haben, ist ungeheuerlich. Es ist mit nichts zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Daß man dem Mann den Tod an den Hals wünschte, konnte ich natürlich nachvollziehen. Doch wie unsere angegriffenen Gesellschaften auf ihn und seine Taten reagieren, wie sie um sich hauen, vor allem was sie sagen, das läßt mich an jene Epoche in der Steinzeit denken, in welcher kein Rechtsempfinden vorhanden war und die Rache als archetypische Reaktion haltlos vor sich hingewütet hatte. ‘Noch nie hat sich eine zivilisierte Welt in einer so friedlichen und freien Zeit befunden wie heute’, heißt es doch immer. Dieser angebliche Zustand erscheint mir nach der Aktion der amerikanischen Eingreiftruppe und der Lobhudelei diverser Regierungschefs allerdings erschüttert. Es drängt sich der Eindruck auf, daß sich unsere Vorbildwirkung in entscheidenden Situationen oft nicht mehr an den von uns propagierten Werten der Menschlichkeit und des Rechtsstaates orientiert. Israel hat beispielsweise mit dem Prozeß gegen Eichmann die Größe bewiesen, seine Rechtstaatlichkeit mit der Weise der Vergeltung an einem der Drahtzieher des deutschen Genozids am jüdischen Volk nicht zu verlassen. Dabei hätte das Leid der Juden im Vergleich zum Leid der Amerikaner für weitaus mehr Verständnis für die öffentliche Zelebrierung einer Rachetat getaugt. Gerade eine ‘Weltmacht’ wie die USA müßte dazu noch viel mehr dazu in der Lage sein. Daß sie es offenbar aber nicht sind, offenbart einen Mangel an Souveränität und rechtsstaatlicher Kultur. Ein Land, welches die Power hat, in mehreren Ländern gleichzeitig Krieg zu führen, welches die medialmanipulative Kraft besitzt, mit geschickter Diplomatie und politisch-wirtschaftlichen Hebelwirkungen einen großen Teil der Welt für ihr kriegerisches Handeln hinter sich zu versammeln – dieses Land besitzt zweifellos die Energie und das Vermögen, die Größe und Erhabenheit eines vorbildlichen Rechtsstaates zu praktizieren und in die Welt auszustrahlen, indem es einem Bin Laden entweder einen öffentlichen Prozeß macht oder mit dem Geschehnis der Tötung und der Bestattung seiner Leiche in einer Weise umgeht, die einem Rechtsstaat würdig ist, seiner Vorbildfunktion Rechnung trägt und welche vor allen Dingen keinen Flächenbrand entfachen kann. Daß sie das nicht tun und das Umgekehrte getan haben, entspringt entweder ihrem Willen oder ihrer Unfähigkeit. Das Vorbild dieser im Prinzip so gut wie öffentlich zelebrierten standrechtlichen Hinrichtung eines Verbrechers hatte den Touch einer Lynchjustiz. Der von den Rächern herausgegebene Bericht über seine ‘muslimische Bestattung’ auf hoher See spricht den Grundsätzen unserer Menschenrechte und unseres Rechtsstaates Hohn und Spott. Ich möchte es nicht erleben, welche Fotos beispielsweise von der etwaigen, trunkseligen Feier dieses ‘Erfolges’ auf dem Beerdigungsschiff von irgendeinem Wahnsinnigen an die Öffentklichkeit gegeben werden. Aber auch ohne Fotos lösen die Berichte in unserem Gedächtnis Bilder aus. Mit der Bekanntgabe dieser Todes- und Bestattungsweise Bin Ladens haben sich solche Bilder automatisch in der Vorstellungwelt von Millionen Menschen etabliert. Fast automatisch malt man sich das Szenario aus: War an Bord des US-Kriegsschiffes etwa ein muslimischer Geistlicher zugegen? Warum wurde das überhaupt so herausgegeben? War das Zweck, Dummheit oder ein Fehler? Die Umstände der Tötungsaktion Bin Ladens werden leider wieder Reaktionen zur Folge haben. Noch mehr Rache. Vielleicht wird es sogar noch schlimmer, als vorher. Ich hoffe es nicht, aber womöglich haben wir es jetzt mit einer Hydra zu tun. Rache ist furchtbar. Sie wurde früher sogar über Generationen hinweg vererbt. Wie soll Friede in dieser Welt entstehen? Wie sollen wir einen friedlichen Umgang mit vielen Bereichen in der muslimischen Welt erreichen, während Bin Laden in zahlreichen Gruppierungen bereits vor seinem Tod als Idol galt und mit seinem Tod die Symbolkraft eines ‘Gottes’ erreichen könnte, wie es arabische Medien diskutieren (Al Dschasira u.a.)? Eines der ältesten Sprichwörter der Welt kommt aus China. Es besagt: “Wer auf Rache aus ist, grabe zwei Gräber.”

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