Er hat immer einen Spruch auf der Lippe. Extrem schnell kommt sein Kommentar. Meistens hat er was damit zu tun, dass er es sowieso weiß. Gut finden tut er etwas selten. Er strahlt, wenn er Herumkritteln kann. Natürlich spricht er gern von Mitgefühl, einen Tick zu oft, es klingt, als würde er über ein außenstehendes Phänomen sprechen. Über etwas, das man vorsichtig, mit Schaltknüppel und Knopfdruck steuern, ein- und vor allen Dingen wieder abschalten muss. Gleichzeitig lobt er die Vernunft über alles. Denn mit ihr hat er immer Recht. Gehen Vernunft und Gefühl zusammen? Natürlich, sagt er, aber nur wenn die Vernunft über dem gefühl steht. Denn nur wer vernünftig handelt, der handelt korrekt. So wie man handeln muss und zu handeln hat. So, wie das doch selbstverständlich ist. Deswegen schätzt er, falls er ihn kennt, Immanuel Kant: Sei so zu anderen, wie du auch zu dir selbst sein würdest. Mit dieser Aussage genehmigt er sich seine Freiheit. Jetzt glaubt er, alles tun und lassen zu können, was er will. Da er zu sich selbst hart ist, kann er auch zu anderen hart sein. Da er selbst nicht gerne fühlt, sollen die anderen auch nicht fühlen. Da er selbst geizig ist, braucht er anderen nichts zu geben. Und dann denkt diese gefühllose Mensch ungebremst – meistens ein Mann – seine Regeln weiter:
Ein Reicher muss was abgeben, weil einem Armen muss man helfen – aber nicht zu viel, weil der muss sich letztlich selbst helfen, so wie man sich auch selbst zu helfen hat. Ein Kranker ist zum Teil selbst schuld, hat er doch unvernünftig gelebt. Und natürlich gehört ein Verbrecher bestraft – aber Vorsicht, man darf nicht zu viel über Bestrafung reden, wegen der Hitler-Zeit – klar, sagt die Vernunft, heute muss man immer auch Verständnis zeigen und Toleranz leben. Deswegen gebührt einem Verbrecher auch immer dosiertes Verständnis. Wie auch den Armen und den Asylanten. Sie alle sind sicherlich arm dran und es ist doch ganz klar, wie man das regeln muss: Vernünftig sein. Gerechtigkeit walten lassen, von der Vernunft herab. Alle gerecht auf Europa verteilen, ihnen Chancen geben, und gucken, dass die anderen in Afrika bleiben. Auch wenn da Gefühl sagt, ‘alle sollen an unserem Kuchen teilhaben’, siegt beim Vernünftigen der Spruch, ‘aber wo kommen wir denn dann hin’? Und die Ukrainer sollen die besetzten Gebiete halt abgeben, dann wird schon Ruhe einkehren.
Nein, ein Schicksal gibt es für ihn nicht. Jeder muss schon selbst sehen, wie er sein Leben regelt, auch wenn er nahe am Verhungern ist. Zur Lösung einer Krise braucht es klarerweise einen Plan und ein Konzept für unser Wohlergehen. Wie das aussehen muss, da kann der Vernünftige stundenlang drüber reden. Und ganz wichtig: Der Straßenverkehr gehört noch mehr geregelt. Weil man ständig überfahren werden kann!
Gefühle stören den Vernünftigen im menschlichen Miteinander. Wofür sie letztlich da sind, ist ihm unklar. Sind sie etwa alt, ist ihr Sinn am Ende überholt? Das räumt er zumindest ein, während er – ganz vernünftig – seine Gefühle spielt: Er lächelt dosiert und gibt seiner Stimme einen warmen, langsamen Klang. Er hört so zu, dass sein Zuhören nervt. Auch spricht er gern von der Empathie, und stellt dabei immer klar: Mit Vernunft kann er regeln, was Gefühle durcheinander bringen: Zu viel Sex ist schlecht, zu wenig Sex ist auch schlecht. Eine halbe Stunde Nichtstun ist wichtig, mehr ist schädlich. Zu viel ist schlecht, zu wenig ist schlecht. Zu laut reden, zu leise reden auch. Zu viel schenken verdirbt. Nicht einen selbst, sondern den anderen. Geizig sein gehört daher zum Überleben. ‚Legitim’ ist ein Wort, das er liebt, und sich deswegen ab und zu einen Kaffee bezahlen läßt.
Die Gefühle anderer sind einem solchen Menschen suspekt. Weil sie – das liegt in der Natur von Gefühlen – seine eigenen berühren. Doch die hat er seiner Vernunft unterstellt. Sie sind deswegen verkümmert und verkrüppelt, seine Gefühle, weil so total ungelebt. Er kennt sich gar nicht mehr aus mit ihnen. Mit seiner Vernuft ist das ganz anders. Deswegen neigt der Vernünftige, Menschen zu verurteilen, die zu sehr ihre Gefühle leben.
Was würde am Ende geschehen, wenn dieser Typ ein in ihm sprießendes Gefühl zulassen würde? Nur Gefühle sprießen ja, einfach so, ganz ungewollt. Der Verstand nie, der wird verwaltet. Würde wirklich alles durcheinander geraten? Irgendwie schon. Denn die Vernunft wäre ausgehebelt. Der Vernünftige wäre seiner Rolle untreu geworden. Und er wäre einer neuen Unsicherheit ausgesetzt: Zu lange beispielsweise mit Hingabe wackelnde Laubblätter betrachten könnte ja ein Hinweis auf eine herannahende Depression sein. Zu viel Sonne genießen der Anfang von der Unfähigkeit. Zu viel Herumhängen der erste Schritt in die Obdachlosigkeit. Das daraus entstehende tiefe Durchatmen würde noch mehr vergessene Gefühle hervorholen. Vielleicht würde er sich freuen müssen. Es käme eventuell der Wunsch in ihm auf, einen Freudesschrei auszustoßen.
Doch einfach so scheinbar grundlos herumzujubeln, das wäre ihm furchtbar peinlich. Nee. Man würde ihn nicht mehr für vernünftig halten. Man würde denken: Der fühlt ja. Und in dem Moment hätte er keinen Spruch mehr auf der Lippe.