Ukrainische Ohnmacht

ohnmacht-stress_lEs wird so unglaublich viel theoretisiert. Die uralte, antiamerikanische Verschwörungstheorie grassiert natürlich schon wieder. Hinter allem stecken CIA und NSA. Teilweise mag das ja stimmen. Aber ganz ehrlich: Mir persönlich wäre eine amerikanische Vorherrschaft lieber, als eine russische, KGB-gesteuerte, menschenverachtende Doktrin, wie sie in Russland herrscht. Grundsätzlich glaube ich aber, dass solche Theorien überbewertet werden. Ich bin eher ein Mensch des persönlichen Erlebens und der nachgewiesenen Fakten. So bilde ich mir meine Meinung. Und so ändere ich sie auch schnell, wenn ich Neues weiß.

 

Ich vermute, dass in der Ukraine einfach einiges ganz entsetzlich aus dem Ruder gelaufen ist. Die Hilflosigkeit und Ohnmacht der Beteiligten spricht dafür. Die jetzige Situation in der Ukraine ist das Resultat eines unfassbaren politischen Dilettantismus und der Blauäugigkeit unserer westlichen Diplomatie gegenüber einem sehr listig und verschlagen agierenden „Partner“, der sich nun als gefährlicher „Gegner“ entpuppt.

 

Es ist seit Jahren bekannt, wie sehr Russland aufrüstet. Jedes Jahr konnte man nachlesen, wieviele Panzer, Raketen, Flugzeuge die Russen gekauft haben. Wofür wohl? Parallel haben wir brav abgerüstet. Jetzt greift Russland an. Aber nicht so, wie wir uns einen Angriff vorstellen. Die Kriegsstrategie dieses Gegners, von dem wir dachten, dass er ein Partner war, ist ganz neu. Als Partner hat er uns tief in finanzielle Geschäfte und Abhängigkeiten verwickelt. Jetzt mag das rückblickend beinahe so aussehen, als wäre diese wirtschaftliche Entfaltung  zwischen West und Ost bereits ein Teil der Kriegsstrategie gewesen, die jetzt zur Geltung kommt: Wir sind praktisch wie gelähmt. Sprechen unsere Staatschefs von Kontensperrungen oder Sanktionen, antworten die Russen: Dann sperren wir Eure Konten auch, und bestrafen Euch wirtschaftlich ähnlich schmerzhaft, wie z.B. indem wir deutsche  Angestellte aus unseren Firmen werfen, indem wir Eure Immobilien in Russland beschlagnahmen.

 

Die Kriegsstrategie Putins ist so, dass man gar nicht mehr weiß, wo der Feind steht. Herzlich umarmt er unseren Alt-Kanzler und seinen Neu-Vasallen in der russischen Mega-Gasfirma Schöder. Er gibt den friedlich strahlenden Herzensbub. Täglich wird parallel medial das Schwadronieren vom alten kapitalistischen Feind USA, und dem „perversen und entarteten Europa“ (weil wir Schwule akzeptieren) geschürt. Das ist im russischen TV laufend zu sehen.

Wir haben es hier mit einem hochgefährlichen Gemisch aus waffenstarrender Bedrohung und medialem Propaganda-Getrommel zu tun. Das Resultat ist die Auflösung des Zusammenhaltes eines Volkes. Unzählige Gruppen von Menschen bilden sich, mit unterschiedliche Haltungen zu dieser Situation, und keiner blickt mehr durch. Das ist auch bei uns zu spüren.

Ich habe in den letzten Wochen in der Ukraine mit vielen Menschen gesprochen. Eine der größten Tragödien sind nicht die Toten, sondern die familiären Zerrüttungen. Ganz viele Ukraine haben Verwandte, die in Russland leben. Dort sind sie indoktriniert mit der ukrainefeindlichen Haltung Russlands, dass in Kiew lauter Faschisten am Werk seien (was völliger Blödsinn ist). Die Familien streiten sich bis aufs Blut, reden nicht mehr miteinander.

 

Und schlimmer: Plötzlich gibt es eben wieder jene alten Welterklärer, die wir aus der Zeit des kalten Krieges kennen: Putin-Versteher, die von der faschistischen Gefahr palavern; USA-Problemträger, die von der kapitalistischen Wucherung Furchterregendes erzählen; Weltherrschafts-Theoretiker, die meinen, wir würden mittlerweile von einem CIA-Spezialprogramm von einer geheimen Insel aus beherrscht werden. Sogar die alten Sozis und Spontis stehen wieder hinter Tapeziertischen in Fußgängerzonen und brüllen mit fanatischem Blick etwas von “USA raus aus Europa!” (gestern in München gesehen).  

Dieser geschürte Konflikt ragt mittlerweile tief bei uns hinein.

Und genau das empfinde ich als das Erschreckende an der gegenwärtigen Situation: Dass zunichte gemacht wird, was über Jahrzehnte an (scheinbar) friedlicher Qualität in Europa gewachsen ist. Nur weil ein paar Diplomaten das Assoziierungsabkommen vermasselt haben, weil man nicht gesehen hatte, wo die wirklichen Interessen Russlands liegen. Die imperiale und geldgierige Haltung Putins und der russischen (sowie einiger ukrainischer) Oligarchen (siehe Achmetov) ist mindestens mit derjenigen zu vergleichen, die man den Vereinigten Staaten vorwirft. Ich halte es daher für absurd, sich hier argumentativ aufzuhalten.

 

Wichtiger wäre es, die Auswirkungen dieses Konfliktes auf uns selber, und auf unsere europäische Kultur zu betrachten: Ich halte es durchaus für möglich, dass Deutschland in Mitleidenschaft einer kriegerischen Auseinandersetzung gezogen wird. Aber da dies nicht ein Krieg ist, wo ein sichtbarer Gegner angreift, werden wir das zunächst anders zu spüren bekommen: Erst einmal werden wir uns intern zerstreiten. Indem sich plötzlich Meinungs-Lager bilden, indem wir misstrauisch werden, vor allen Dingen den Medien gegenüber (und das meistens zurecht), indem wir uns gegenseitig nicht mehr glauben. In diesem Klima des Misstrauens liegt die Gefahr, dass extremistische  Gruppen und Parteien stark werden. Bereits jetzt kann man sehen, wie europaweit rechtslastige politische Strömungen stärker werden. Und begünstigt, sowie beschleunigt wird eine solche Entwicklung durch diese rudimentäre und oft völlig undifferenzierte Kommunikation von Millionen Menschen auf FB oder anderen sozialen Netzwerken.

 

In der Ukraine geschieht gerade genau das: Durch die Medienpropaganda wird der Zusammenhalt des ukrainischen Volkes zersetzt. Irgendwelche „Separatisten“ haben – aus dem Hintergrund von Russland aus gesteuert – Gebäude besetzt. Das ist bereits auf der Krim erfolgreich durchgeführt worden. Jetzt versucht es Russland in der Ost-Ukraine. Nur geht das nicht mehr ganz so einfach:

Die ukrainische Regierung greift jetzt mit Truppen ein. Die Russen lassen sie gewähren.

Aber das ist die gleiche Falle, wie in der Insitutskaya-Strasse am 20. Februar 2014. An jenem Tag hatten die (m.E. von Yanukowitsch und russisch gesteuerten Scharfschützen) die wehrlosen Menschen zunächst nur in Arme und Beine geschossen. Mit dem Ziel, dass viele Helfer kommen. Die kamen. Und dann wurden alle in den Kopf geschossen.

Auch was gerade in der Ost-Ukraine geschieht, könnte eine ähnliche Falle sein: In dem Moment, wo die sich möglichst viele ukrainische Kräfte in den Krisengebieten konzentriert haben, schlagen die Russen zu. Warum? Damit die Schmerzen so groß sind, der Schock so unermesslich, dass der restliche Eroberungszug im Träume dieses tragischen Geschehens ganz schnell und locker durchgeführt werden kann.

In Kiew ist das trotz Scharfschützen-Kugelhagel nicht gelungen, weil das Maidan-Volk keine Todesangst hatte und immer mehr Demonstranten in die Institutsaya-Straße liefen. Da mussten sie aufhören. Auf der Krim kam es gar nicht so weit. Doch jetzt in der Ost-Ukraine sieht es genau so aus, als könnte sich das Gemetzel von Kiew wiederholen, nur im größeren Stil. Odessa war ein Vorgeschmack davon.  Und das alles unter dem Schein-Alibi, dass Russland seinen Leuten in der Ukraine zu Hilfe eilen muss.

 

Man könnte das Ganze auch Theaterstück nennen. Ein Theaterstück mit Toten und einem wunderbaren Land, das vernichtet wird, während Europa und die USA tatenlos zusehen. Zur Tatenlosigkeit verdammt. Weil wir viel zu tief verflochten sind. Deswegen kann ich das Wort „Schröder“ nicht mehr hören. Im November hätten Europa und der Internationale Währungsfond ganz schnell reagieren müssen, als Russland die ukrainische Regierung mit der Verlockung eines Milliardenkredits dazu brachte, sich trotz monatelanger Vertragsvorbereitungen wieder Russland zuzuwenden.

 

Aber mit all diesen Entwickungen wurden Europa und wohl auch die USA wohl mitten im Tiefschlaf erwischt. Jetzt wirkt es auf Putin so, als gäbe es keine Grenzen. Und so ist es wohl auch. Sicherlich ist nicht nur Russland der Böse. Sicherlich kann man vieles rückwirkend erklären, über Beleidigungen reden, die Europa und die USA Putin angeblich zugefügt haben. Klar, Putin hatte einmal angeboten, einen gemeinsamen wirtschaftlichen Raum zu schaffen etc. Aber was an all dem war Taktik, was war wie, warum –  in all dem steckt keiner von uns drin. Ich kann nur das beurteilen, was ich sehe, höre, was ich wirklich weiß. Und da bleibe ich ganz nah bei mir.

So finde es gar nicht gut, das Obama Russland eine Regionalmacht nannte, das finde ich genaus schlimm, wie die Umarmung Schöders mit Putin vor einigen Tagen. Doch bei all diesem Abwägen, Verstehen und Nichtverstehen, bleibt ein Grundgefühl, bei dem ich mir wirklich sicher bin, das es stimmt: Diese Ohnmacht der Ukraine, die fühle ich auch hier, selbst, am eigenen Leib, mitten in Zentraleuropa.

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