Prinzip der Angst

brennende-flagge-von-ukraine-revolutionszeichen-38493154 Frage: Wenn auf der anderen Straßenseite zwei Männer auf einen wehrlosen Menschen einprügeln, was machen wir dann?

Vielleicht rufen wir zuerst einmal vielleicht hinüber, wollen vermitteln, fordern: “Sofort aufhören!”

Die Männer aber rufen aufgebracht zurück: “Nein, wir sind es, die bedroht sind.” Und sie prügeln jetzt erst Recht auf den Menschen ein. Sie schreien: “Denn das ist ein Terrorist, das ist ein Faschist, er hat unsere Leute schlecht behandelt! ” Immer mehr prügeln sie auf ihn ein.

 

 

 

Immer noch überzeugt, dass Vermitteln das Richtige ist, rufen wir – mit der schon ein wenig perfiden Legitimation unserer Doppelmoral im Nacken (wir wollen das Richtige: Friede. Wir tun daher das Richtige: Nichts) – mit einem Appel an den Verletzten zurück: “Keine Angst, sie fordern, dass Du Dich nicht bewegst, tu es also nicht, ist doch ganz einfach!”

Der Verletzte muss sich aber bewegen. Was sonst soll ein Mensch tun? Starr und unbeweglich da liegen? So hauen sie weiter auf ihn ein. Der Verletzte ruft uns immer mehr um Hilfe. Und was ist mit uns selbst los?

 

Wir haben Angst. Und spätestens mit dieser Angst geht uns diese Auseinandersetzung existentiell ganz direkt etwas an. Indem wir Angst haben, sind wir bereits involviert. Unmittelbar. Wir können und dürfen uns nicht mehr entziehen. Wenn wir nichts tun würden, um diesem Menschen zu helfen, würden wir uns an dem Verbrechen mitschuldig machen, das die Männer an dem Wehrlosen verüben. Wir würden die Tür öffnen helfen für einen Unterdrückungs-Mechanismus des Schreckens, hier auf europäischem Boden, hier, wo wir uns in Friede und Freiheit eingelullt fühlen. Und das wäre dann nichts anderes, als die Rückkehr in eine Welt, von der wir uns seit fast 70 Jahren losgelöst glauben. Es gilt jetzt, dieses Europa zu verteidigen, an das wir glauben.

 

Es ist das Prinzip der Angst, mit dem die Angreifer agieren, und auf das wir selbst hereinfallen. Immer wenn sie nicht schlagen und momentweise Ruhe geben, löst sich unsere Schocksstarre auf. Dann fühlen wir uns wieder besser. Wir machen Anstalten, hinüber zu gehen, um zu helfen, wollen unsere Schuld damit kompensieren. Vielleicht medizinisch helfen, den Verletzten ein wenig streicheln?

Doch da lachen die Angreifer nur. Natürlich prügeln sie weiter, denn das ist ihr System. Und es funktioniert. Wir sind selbst völlig verheddert in diesem Mechanismus der Angst, und deswegen weichen wir ganz schnell wieder zurück.

 

Unsere Doppelmoral dabei: “Nicht eingreifen, weil das alles noch schlimmer macht!”

 

Volodymyr RybakVorgestern haben prorussische Milizen einem Abgeordneten der Timoschenko-Partei, Volodymir Rijbak, in der Ostukraine den Bauch aufgeschlitzt und ihn lebendig ertränkt. Einigen anderen erging es genauso. Gestern haben sie Kindergärten besetzt. Mit den Kindern als Geiseln zwingen sie die Eltern, auf der russischen Seite zu kämpfen.

 

Mit ebensolchen Mitteln haben sie auf der Krim das prorussische Referendum erzwungen. Dort wurden beispielsweise zwei ukrainische Mädchen, die jahrelang eine Eisdiele betrieben haben, gezwungen, pro Russland zu wählen und die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. “Sonst nehmen wir euch das Business weg!” Die Mädchen wurden sofort Russinen. Doch das Business bekamen sie trotzdem weggenommen. Jetzt sind sie geflohen.

Ähnlich erging es einer ukrainischen Familie, die aus diesem Grund ihren kleinen Hotelbetriab auf der Krim aufgeben musste.

Und nicht zuletzt waren die Scharfschützen von Kiew im Februar aller Wahrscheinlichkeit nach Janukowitsch-Milizen mit russischer Unterstützung. Erstes ist eigentlich erwiesen, letzteres liegt nahe – auch dafür gibt es zahlreiche Hinweise. Das Ziel dieses blutigen Terrors war das gleiche wie jetzt: Ein für alle Mal mit aller Gewalt diese Revolution zu verhindern, den Sieg der Maidan-Bewegung, diese Schmach für Leute wie Janukowitsch, wie Putin. Das wurde zuerst in Kiew versucht, erfolglos. Nun wird es von hinten aufgezäumt: Beginnend dort, wo die Ukraine prorussischer ist, also über die Krim, dann die Ostukraine, dann…

 

All dies sind die Mosaiksteine einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Wir fühlen uns dieser Welt von uns aus gesehen zwar fern. Als hätten wir aus der Geschichte nicht gelernt, haben wir bei der Krim-Annektion geglaubt: Die Ost-Ukraine nimmt er nie. Nun ist er in der Ostukraine. Und dann? Westukraine? Kommt dann wieder Janukowitsch ins Amt, der dann eine Schreckensherrschaft beginnt und die gesamte Euromaidan-Bewegung inklusive Sympatisanten, also quasi das gesamte ukrainische Volk, verfolgen lässt? Und dann? Moldavien, Polen, Weissrussland? Im 2. Weltkrieg sind die Alliierten erst 1943 eingeschritten. Wären sie früher gekommen, hätte es womöglich Millionen Tote weniger gegeben.

 

Die Lage ist dramatisch. Sie geht uns alles etwas an: Europa und die USA. Wir sind diejenigen auf der anderen Straßenseite. Gefangen in unserer Angst. Dieses Putin-Verstehen in deutschen Fernsehtalkshows basiert auf nichts anderem, als auf dieser Angsthaltung. Wo bleibt das Ukraine-Verstehen? Wahre Informationen, Aufklärung darüber, wie oft Russland bereits die Ukraine (oder die Krim-Tartaren) besetzt, deportiert, oder mit einer langfristig inszenierten Hungersnot (Holodomor vor 60 Jahren) auszulöschen versucht hat? Sicherlich sind auch die Ukrainer keine Engel und keine Heiligen. Und sicherlich kann man nicht alle russischen Menschen und Politiker als Böse über einen Kamm scheren. Doch die Diskussion der Krise hierzulande ist stark von russischer Propaganda beeinflusst, von falschen Informationen und oft geradezu grotesken Fehl-Meinungen geprägt. Ex fehlt Ausgewogenheit in der Information hierzulande. Es fehlen all diese doch relativ leicht recherchierbaren Details darüber, was dort drüben wirklich los ist.

 

Doch wir auf der anderen Straßenseite, wir neigen dazu, uns das Leben schön zu denken, obwohl wir uns letztlich auf der gleichn Strasse befinden. So versuchen wir, Putin und seiner Motivation schöne Seiten abzugewinnen. Viele Menschen neigen dazu, den Ukrainern negative Seiten anzuhängen, um Putins Treiben und damit eine eigene prorussische Haltung zu legitimieren. Es ist, als würden die Menschen glauben, was die Schläger auf der anderen Strassenseite sagen: Das sind Faschisten, Terroristen, man darf sie prügeln, ja vernichten.

Warum regt sich niemand über diese ungeheuerlich hetzerische und an die Nazizeit erinnernde Propaganda auf, die in russischen Fernsehsendern seit Januar fast täglich immer wieder aufflammt: Dass wir hier in Westeuropa alle pervers seien, weil wir Schule akzeptieren; dass die Dänen gehirnamputiert wären, weil sie sich um das Wohlergehen einer Giraffe im Zoo sorgen; ob es nicht doch einmal angebracht wäre, mit einem nuklearen Schlaf über den USA zu liebäugeln..? All dies sind Aussagen aus aktuellen russischen Fernsehsendungen. Warum wird das hier nicht berichtet? Was ist hier eigentlich los?

Vielleicht leiden wir unter den Symptomen einer uns zueigenen, peinlichen Doppelmoral. Denn wenn wir uns einmischen würden, könnten wir ja unseren Frieden verlieren, unsere Sicherheit. Doch ist “Einmischen” nicht das falsche Wort für unsere Situation, sind wir nicht ohnehin zusammen, und wäre es dann nicht richtiger, sofort mit aller Vehemenz, Klarheit und Unmissverständlichkeit zu reagieren und zu helfen? Würden wir nicht auch alles verlieren, wenn wir nur zusehen und nichts tun?

 

Und ist dies, was auf der anderen Strassenseite gesagt wird, eine Legitimation, das Morden, die Erpressung und die Gewalt auf der anderen Straßenseite weiter zuzulassen? Wir fühlen uns doch bereits selbst bedroht, hängen im Bann des Angstspiels der Agressoren.

 

Diese Konfrontation betrifft auch uns. Sie ist direkt und unmittelbar in unserer Welt angekommen. Sie bedroht unsere Sicherheit und vor allen Dingen unsere Werte.

 

Wir müssen hinübergehen, uns notfalls dazwischenstellen. Ja, es besteht dann die Gefahr, dass auch wir verletzt werden. Aber das ist eben das unangenehme Mitbringsel der Zivil Courage. Aktiv helfen, die Verantwortung für das mittragen, woran man beteiligt ist, egal, ob man dabei einem Ausländer hilft, einer Frau, einem Kind, einem Menschen anderen Glaubens, oder eben unserem Nachbarland Ukraine.

 

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