Manchmal glaube ich, ich gehöre zu jener Gruppe Menschen, von denen es heißt, sie seien die eigentlich Normalen, weil in Wirklichkeit die anderen die Verrückten sind. Mein selbstverordneter Versuch, jeden Tag die maximal mögliche Umsetzung der Werte zu leben, ist mir bis jetzt gänzlich misslungen. Ich ertappe mich dabei, wie ich beinahe stoisch in der Betrachtung anderer Menschen versinke und ihr Verhalten nach meinen Wertmaßstäben beurteile. Ach was, beurteilen ist das nicht: ich stutze mir meine Meinung auf den Stimmungsgrad zurecht, in dem ich mich gerade befinde. Das macht mich fertig, denn meine Messlatte hängt unerträglich hoch. Meistens viel höher, als es meine Stimmung erlaubt. Der praktische Umgang mit den Werten kommt mir wie ein Krampf in einem Gehirnmuskel vor, den ich nicht auflösen kann, weil mir die richtige Massagetechnik oder ein passender Kniff fehlt. Ich habe mich in meinem Buch intensiv mit diesen Werten beschäftigt. Respekt, Aufgeschlossenheit, Integrität und Co. Die Taekwondo – Trainings, die Lektüre der dazugehörigen Literatur, unzählige Gespräche mit Freunden und Bekannten und die Lehren des Großmeisters Ko erscheinen mir mittlerweile wie ein Teil meiner selbst: Ich habe sie in meine Seele aufgesogen. Ich empfinde, wenn ich ausnahmsweise einmal einigermaßen entspannt bin, ein geradezu inniges Verhältnis zu ihnen – solange ich nur über sie nachdenken muss. Doch wenn mir ein Tag dazwischengerät, wie der heutige, einer, in dem praktisch vom ersten Schritt bis zum letzten alles gegen den Strich läuft, hänge ich hilflos in den Seilen. Ein Gorch Fock-artiges Gefühl, die aufkeimende Angst vor einer plötzlichen Lähmung, vor zu wenig seelischer Kraft, die Panik, vielleicht gleich von irgendwo runter zu fallen. Gestern ging es bereits morgens bei dem Bäcker los – ich war zehn Minuten zu früh. Heute ging es, wieder morgens, im Cafe weiter: Während ich gestern das Geschäft zehn Minuten vor Ladenöffnung betrat, saß ich heute erst fünf Minuten zu früh vor Öffnung der Küche im Cafe und wollte einen Tee bestellen. Dass mich der Kellner mit freundlichen Worten bat, auf die morgendliche Sensibilität der Küche Rücksicht zu nehmen, konnte ich noch ertragen. Doch dann ging es weiter: Ich konnte fast niemanden telefonisch erreichen. Zwei Termine platzten. Bei dem einen wurde ich ein paar Minuten vorher informiert (Probleme mit den Zähnen), beim anderen wurde ich versetzt. Durch die erfolglose Telefoniererei fing ich an, mich über die Geldabzocke der Telefonanbieter aufzuregen. Ich beschloss, es überall, egal wo, nur noch dreimal klingeln zu lassen. Denn irgendwann nach dem vierten Mal geht die Mailbox los und die Kosten laufen an. Man kann ja dreimal klingeln, auflegen, und dann nochmal dreimal klingeln. Das ist billiger und, so glaube ich, wertvoller, als wenn man den Telefonfirmen das Geld hinterher wirft. Im Supermarkt wurde ich später beim Zahlen gefragt, ob ich ‚Herzchen‘ hätte. Ich habe zuerst nicht verstanden, was gemeint war. ‚Herzchen?!‘ sagte die Angestellte noch einmal mit einem etwas energischeren Ton. Verwirrt sagte ich: ‚Das ist aber lieb‘. Die Frau kniff die Lippen zusammen und murmelte ein „Also wirklich“ vor sich hin. Erst jetzt knipste das Rabattmarken-Lämpchen in mir an. Beim Tanken ging das Spiel weiter: „Haben Sie unsere Karte?“ „Ja!“ sagte ich und legte meine Kreditkarte auf den Tisch. „Die ist nicht von uns!“ „Wieso?“ „Ich wollte nur wissen, ob Sie unsere Bonuskarte haben?“ „Nein!“ „Na denn mal gleich.“ Der Kassierer hatte jenen strengen, norddeutschen Akzent, der einen sofort in die Habachtstellung rückt. Ich beschloss, bei Kassen in Zukunft grundsätzlich auf keine Frage mehr eine Reaktion zu zeigen. Das ist sicherer. Zurück im Büro blinkten auf meinem Bildschirm lauter blaue, quadratische Schriftfelder. Ich bin nämlich dabei, mich bei Facebook zu registrieren, weil mir eingebläut wurde, dass ich das unbedingt tun muss. Ich klickte auf den Feldern immer “Ja“ an und dann wurde mir gesagt, dass ich jetzt 31 Freunde hätte. Und alle hätten Botschaften für mich! Ich dachte an die Herzchen im Supermarkt und die Bonuspunkte beim Tanken. Jetzt werden mir die Freunde nachgeworfen. Wie viele Freunde hast Du schon, fragte mich ein Freund am Telefon. Nein! Nein. Nein, JA! Ich habe Freunde. Aber was soll ich mit ihnen tun? Sammeln wie Rabattmarken? Irgendwas vermarkten, eine Veranstaltung promoten oder eine kleine Revolution inszenieren? Abends verkroch ich mich zu Hause. Durch entspanntes Atmen versuchte ich das Summen abzustellen. Ich kam mir verrückt vor. Der Verrückte muss ich selbst sein. Freiheit im Sonderangebot. Freunde frei Haus. Der Überfluss schwirrt um mich herum. Er vermittelt mir ein unfreies Gefühl. Diese Inflation von allem erzeugt in mir spontane Verweigerungsreflexe. Vielleicht bin ich nicht der Einzige, dem es so geht. Was passiert, wenn es ganz ganz viele werden, bricht dann alles zusammen? Stehen wir vor der totalen Entwertung? Oder sind wir schon mitten drin? Vielleicht sollte ich nicht immer nur über die Zukunft nachdenken, sondern mal ansehen, was das für eine Gegenwart ist.