Ein ganz normaler Weg. Sie sagen, Napoleon hätte ihn vor unendlich vielen Jahren einmal getrampelt. Später wurde er immer mehr ausgetreten. Schnell angelegt und mit riesigen Felsklötzen befestigt. Seit ich ihn kenne, heißt er Passegiatta Amatrice (Weg der Liebenden). Er ist einer der schönsten Spazierwege, die ich jemals lieben lernte. Unmittelbar am Meer. Erhaben ein paar Dutzend Meter darüber. Von unten herauf riecht dieser wunderbare Seetangduft. Ca. einen Kilometer lang. Dem wunderschönsten Morgenspaziergang des Universums ist vor vielen Monaten einmal ein Stein heraus gebrochen. Nach über hundert Jahren Ruhe in der Wand ist er herausgefallen wie ein alter Zahn. Damit begann das große Debakel der Passegiata Amatrice, des schönsten Meerweges des Universums. Keiner wollte die Reparatur bezahlen.
Nein, nicht, weil das Ganze etwa gefährlich wäre und Milliarden gekostet hätte. Es gibt an dieser Küste unzählige Maurer, die Arbeit suchen. Ich kenne welche, die angeboten hatten, den Stein umsonst zurückzumauern. Doch keiner wollte ihnen den Zement bezahlen. Darum drehte es sich gar nicht. Die Unfallversicherung der Stadt, sagte man mir, wolle, dass der Weg wegen dieses Steines komplett geschlossen wird.
Man hatte einfach gute Erfahrungen gemacht mit Problembewältigungen an diesem Weg. Von ihm führten nämlich bis vor zwei Jahren noch zwei Treppen zu verwunschenen Terrassen fast direkt am Meer. Dort hatten sich die Liebenden manchmal auch unter der Wasseroberfläche versteckt. Was für wunderschöne Zeitungsumblätter- und in den Himmelschauerlebnisse hatte ich dort beim Meeresrauschen erlebt! Auch bei den Terrassen waren dann ein paar Steine herausgefallen. Exakt drei Stück. Die Lösung. Die gesamten Terrassen wurden gesperrt. Verbarrikadiert mit eingemauerten Stahlgittern. Mehr wurde nie gemacht. Und niemand regte sich auf.
Nun, da diese Lösung so gut funktionierte, haben sie einfach den gesamten Weg der Liebenden gesperrt. Mit mehr Zement, als man dem Maurer hätte geben müssen.
Ich habe nun einen Landschaftsstatiker befragt. Er sagte mir: „Da gibt es kein Problem. Alles steht auf hunderten von Meter Fels. Es ist die Mafia. Es ist die Unfähigkeit. Es ist die N‘drangheta. Diese Stadt hat keine Führung. Sie wird von Wahnsinnigen regiert.“
Wir befinden uns, wie gesagt, nicht in Sizilien oder Calabrien. Hier handelt es sich um Norditalien. Riviera. Touristenparadies. 45 Minuten nach Nizza. Vor unserer Haustür.