Hochnebel im Kopf

Christian Seidal: “Hochnebel im Kopf”, 22.10.2012

 

24 Stunden hat der Tag. Davon sind wir meistens so um die 15 – 16 Stunden lang wach. Zwei bis drei Stunden gehen fürs Essen weg. Dabei beeilen wir uns aber bereits. Es bleiben noch 13 – 14 Stunden.

Die unbeliebten Zeiten, die man immer vermeiden und wegdrücken will, die man so schnell wie möglich durchhechelt, die des Wartens, Anziehens, Ausziehens, Einkaufens und von A nach B Kommens summieren sich nach meiner Rechnung pro Tag auf weitere drei bis vier Stunden. Dabei sind die Gänge zum Briefkasten, zur Toilette, zum Supermarkt oder das unruhige Verweilen im Verkehrsstau mitgerechnet. Ziehen wir sie ab, bleiben immer noch zehn bis elf Stunden. Von ihnen sitzen wir, so sagt es die Statistik, mindestens drei bis vier Stunden vor dem Computer oder wir telefonieren. Es bleiben trotzdem noch sieben bis acht Stunden. Das ist doch ein riesiger Zeitraum, oder? O.k., während der Zeit arbeiten wir. Aber die Zeit vor dem Computer ist bereits miteinberechnet. Mit ihr wäre es noch viel mehr Zeit, die wir hätten.

Also lassen wir sie und ziehen von den zehn bis elf Stunden acht Stunden Arbeitszeit ab. Es bleiben zwei bis drei Stunden. Dies ist eigentlich eine absolut freie Zeit, oder?

 

Realistischerweise sollten wir noch eine Stunde Büroarbeit abziehen. Sie schließt die Zeitvergeudung des Streitens und Gehirnverkrampfens mit ein, in denen wir uns mit Angelegenheiten des Zusammenlebens und Auskommens mit den anderen beschäftigen. Das ist sehr konservativ gerechnet. Obwohl wir vermutlich bereits in diesem Stadium der Rechnung bereits viel mehr Zeit zur Verfügung haben, bleiben immer noch zwei Stunden. Was um Himmels Willen machen die Menschen in dieser üppigen Zeit? Telefonieren, Skypen und Chatten ist ja schon abgezogen.

 

Man könnte jetzt eine weitere Stunde abziehen für die Tätigkeiten, zu welchen sich die meisten schon nicht mehr trauen, weil ihnen die Zeit angeblich nicht mehr ausreicht. Diese fast geträumten Aktivtäten, die einfach nie hinhauen. Weil das Leben angeblich gegen einen verschworen ist und man schlicht zu wenig Zeit hat. Weil die Zeit wie bei allem, wovon wir süchtig sind, nie ausreicht und nie genug ist. So wie die Zigaretten schneller ausgehen, als man zum Rauchen aufhören will, der Wein schneller leer ist und die Gram- und Streitsucht von keinem Exzess der Welt gelindert werden kann, so ist auch der Weg dorthin, wo wir sein wollen, meistes zu weit. Außerdem ist er abhängig vom eventellen Wetter und dem hypothetischen Verkehrsstau, all dieser überflüssige Zeit, die uns daran hindert, zu Malen, zu Lieben, zu Joggen, Spazierengehen, Sport zu machen, zu Meditieren, einem Hobby zu fröhnen oder einfach im Cafè die Seele baumeln zu lassen. Doch selbst dann würde immer noch eine Stunde bleiben.

 

Wenn ich mir den Tag so durchrechne, haben wir trotz allem ausufernd viel Zeit. Wo bleibt sie aber? Ach ja, ich muss zugeben, eines nicht mitgerechnet zu haben: Die Zeit, die wir mit Denken verbringen, auf dem Stuhl hin- und herrutschen, unruhig werden und Gefühle bearbeiten. Dem irgendetwas besser oder schlechter finden, dem ununterbrochenen Bewerten und sich darüber streiten, warum man darin unterschiedlicher Meinung ist. Mit dem ständigen Kontrahieren und Dampfen im Kopf. Wie man endlich glücklich wird in diesem Leben. Diesem Herumirren im inneren Hochnebel. Dem Wälzen von Problemen, die meistens gar keine sind. Da rasen die Minuten durch wie ein Wasserfall. Und sind plötzlich alle weg. Als wären sie nie dagewesen. Denn im Nebel sieht man ja nichts.

 

Übrigens: Wenn man die drei bis vier Stunden, die wir nicht so gerne mögen, auf vierzig Jahre hochrechnet, ergeben sich vier bis fünf Jahre. Fast ein halbes Jahrzehnt in unserem Leben, das vermieden, weggedrückt, nicht wahrgenommen oder kompensiert wird. Mit noch mehr Chatten, Smsen, an den Bildschirmen festkleben, Trinken, Mindfucken oder anderen Sorten von Gedränge, an das man sich am Schluss meistens nicht erinnern kann, das also keine Lebensqualität bedeutet.

 

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