Christian & Christiane – Eine Filmdokumentation

Fotos: Florian Seidel

Aus der Presseerklärung des Produzenten 3w-Film, Dr. Dariusch Rafiy

Ein Mann beschließt, für mehr als ein Jahr lang seine Identität zu ändern und als Frau zu leben. Er ist der bestehenden Männerrolle überdrüssig und gibt als Motiv an, die Kluft zwischen Mann und Frau überwinden zu wollen, die aus seiner Sicht immer größer wird. Sein Entschluss stößt in seiner nächsten Umgebung, bei seiner Frau, fast allen Freunden und überraschenderweise nur manchen Freundinnen auf Skepsis und Widerstand: Was will er damit beweisen? Das ist die Ausgangssituation des Films „Christian und Christiane“, in dem der Regisseur Dariusch Rafiy ein Jahr lang den Münchner Autor Christian Seidel in seiner Rolle als Christiane in München, London und Italien begleitet hat.

Wenn Christian Seidel als Mann so etwas wie eine graue Maus im Sakko ist, so gleicht Christiane der Inkarnation einer blonden Göttin: Gardemaß in High Heels, mit langen, schlanken Beinen unter einem knappen Mini, wohlproportionierte Kurven und langes, seidenweiches Haar: Eine Frau, nach der sich die Männer umdrehen. Ist da jemand seinem eigenen Idealbild von Weiblichkeit erlegen? Christian Seidel war viele Jahre erfolgreich im Mediengeschäft tätig, als Schauspieler, Journalist, PR-Manager und Filmproduzent. Vor einigen Jahren verabschiedete er sich aus der Branche, um sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seidel hat lange vor „Germany’s Next Topmodel“ Schönheiten wie Claudia Schiffer als Manager betreut und Projekte und Filme realisiert – oft über Themen, die mit dem Imagekonflikt rund um das Weiblichkeitsklischee zu tun hatten (wie z.B. „Sound“ von Nicolas Roeg oder „The Biographer“ von Philipp Saville, ein Film Noir über Lady Di). Außerdem hatte Seidel einst für eine Gottschalk-TV-Show den ersten Fernsehmodelcontest erfunden und gilt als einer der Entdecker von Heidi Klum.

In einer Begegnung mit dem Fernsehproduzenten Holm Dressler („Wetten Daß“ u.a.) schaut sich Christiane in einem Kino alte Filmaufnahmen von der Castingshow an. Die beiden unterhalten sich über Weiblichkeitsklischees. Doch die Warnung Dresslers, dass Christianes Grenzwanderung zwischen den Geschlechtern eine Persönlichkeit auch zerreißen könne, schlägt Christiane in den Wind. „Genau das will ich, meinen Ruf und mein Image zerstören“, sagt Christian Seidel im Film und gibt seine Identität als Mann immer mehr zu Gunsten von Christiane auf.

Wie erlebt der ehemalige Macho Seidel die Welt aus der ‚weiblichen‘ Perspektive, aus seiner Frauenrolle? Wie nimmt Christiane die Frauen und die Männer, also ihre “ehemaligen” Geschlechtsgenossen wahr? Und wie wiederum reagiert ihre Umwelt auf Christiane? Kann er nach weit mehr als einem Jahr “Frausein” einfach wieder Mann werden? Und will Christiane das überhaupt noch? Für ihn stellt sich die Welt auf den Kopf. Fast keine seiner Überzeugungen über die Geschlechter bleiben bestehen.

Die Frauenrolle wirkt sich für Christiane tatsächlich befreiend aus: Nach zaghaften ersten Schritten und Rückschlägen fühlt „sie“ sich zunächst wohl, entfaltet sich zu einer selbstbewussten Persönlichkeit. Christiane spürt im Inneren eine tiefe Veränderung. „Sie“ wird empfänglicher für Signale und Reize, Vorahnungen und Empfindungen, die Christian früher bei Frauen unerklärlich waren. Der Kontakt zu den Frauen stellt sich plötzlich schnell und vollkommen ungezwungen her. Christiane fühlt sich bestätigt: Sie sieht sich als Brücke zwischen den Welten.
Gleichzeitig ist die Selbsterfahrung auch schmerzlich. Seidel verliert fast alle männlichen Freunde und ist schockiert von dem Männlichkeitsbild, das sie/er aus seiner neuen Perspektive plötzlich sieht. Und: Christian Seidel ist verheiratet. Seine Frau ist irritiert über die Verwandlung ihres Mannes: Zweifel am Ehemann, Selbstzweifel, Verzweiflung. Zwar scheint Christiane auch Erleichterung in die Beziehung zu bringen: Sie ist viel weicher, verständnisvoller – aber eben kein richtiger Mann mehr. Was ist überhaupt ein “richtiger Mann”, fragt sich Seidel daher.

Das Experiment schwebt wie ein Damoklesschwert über der Beziehung – besonders, als es sich zu verselbstständigen droht. Immer mehr suchen Christian/e Träume heim, in denen er/sie geschlechtslos durch die Welt gleitet: Ein angenehmes Erlebnis. Aber wenn Christian/e aufwacht, ist er/sie niedergeschlagen, weiß nicht mehr, was er/sie ist. Die Identität scheint sich aufzulösen. Christian/e sucht biologische Antworten: Hat sich die äußerliche Verwandlung auf das körperliche Sein und damit auf sein Denken niedergeschlagen? Tatsächlich ergeben Untersuchungen von Seidels Bluts, dass Christian/es Testosteronhaushalt auf fast weibliches Niveau gesunken ist. Ein erstaunlicher Beleg für den Zusammenhang von Sein und Bewusstsein, von Image und Identität, für die Verbindung zwischen Innen und Außen.

Der Film zeigt Christian & Christiane zu Hause während seiner/ihrer Verwandlungen vom Mann in die Frau und umgekehrt. Er begleitet Christiane in die unterschiedlichsten Bereiche des Alltags und auf Reisen nach London und Italien. Dariusch Rafiy dokumentiert die Zerreissprobe eines Mannes, der – fast verzweifelt – versucht, die Klischees seiner Geschlechterrolle zu verlassen, um seine wahre Identität zu finden. „Christian & Christiane“ ist das hautnahe und authentische Filmprotokoll des Genderexperiments von Christian Seidel. Rafiy liefert vor dem Hintergrund der hochaktuellen – und meist nur theoretisch geführten – Geschlechterdebatte, einen radikal subjektiven Film: Das Porträt der Verwandlung Christian Seidels zur Frau überträgt Vieldiskutiertes in die Praxis und läßt mit dem Protagonisten die ungeahnten Möglichkeiten der Grenzüberschreitung erleben und nachempfinden – genauso wie die Grenzen und Gefahren.

Über Dariusch Rafiy
Der Münchner Regisseur Dariusch Rafiy hat seit 1994 mehr als 400 Filme aus aller Welt realisiert. Seine Leidenschaft gilt fernen und fremden Ländern, die er über einfühlsame Porträts aus der Innenperspektive näher bringt. Für arte produzierte Rafiy zuletzt aus dem Iran („Kaviar – Der Schatz aus dem Iran“; „Dingomaro – Irans schwarzer Süden“) und Myanmar („Myanmar – Aufbruch ins Ungewisse“). Mit „Christian & Christiane“ widmet sich Rafiy dem Bereich außergewöhnlicher Lebensgeschichten in gesellschaftlichen Grenzbereichen. Auch hier überwindet er Vorurteile und bringt eine fremde Welt näher, die allerdings direkt vor der Haustür liegt. Dariusch Rafiy ist promovierter Politikwissenschaftler.

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