Parallelwelten

Ein schwerer Schicksalsschlag. Von einem Tag auf den anderen ist alles anders, als vorher. Gerade noch wunderschön, und jetzt plötzlich furchtbar. Wenn ich von der Vielzahl der Zuschriften an mich ausgehe, scheint es sehr vielen Menschen so zu gehen. Von dieser Dramatik gibt es sicherlich Dimensionen, die ich nie erlebt habe, die ich mir nicht vorstellen kann, die ich niemandem wünschen und selbst nicht erleben will. Ich kann nur aus meiner Warte darüber schreiben. Autorisiert mich mein Erlebnishorizont, über Dinge zu schreiben, von denen ich keine Ahnung habe? Kaum. Aber ich kann von dem schreiben, was ich selbst weiß und spüre, von meiner eigenen Wirklichkeit, von meinen Wahrnehmungen und Gefühlen. ‘Parallelwelt’ wird er von manchen genannt, der Lebenraum von Menschen, die durch ein besonderes Schicksal nicht mehr an dem üblichen Zusammenleben der anderen in der gewohnten Form teilnehmen können. Zu ihnen zählen behinderte Menschen, die durch einen Unfall oder andere Geschehnisse ihre Beweglichkeit eingebüßt haben, oder vielleicht nie hatten, aber auch Menschen, die ein Trauma erlitten haben, das sie nicht mehr vergessen können. Ich lag einmal in einem Krankenhaus, weil mir ein nicht ganz unansehnliches Stück Haut aus meinem Körper herausgeschnitten werden sollte. Damals war ich plötzlich in eine Parallelwelt eingetaucht. Auf meiner Station befanden sich Menschen, die sich Muttermale oder lästige Warzen herausschneiden lassen wollten, aber auch solche, die mit ihrem Aussehen nicht zufrieden waren. Sie ließen sich die Nasen, Gesichtszüge, Brüste oder andere Stellen an ihrem Körper verändern. Und dann waren da noch die Krebskranken. Ein Junge von 13 Jahren saß öfters mit hochgelegtem und verbundenem Bein vor der geöffneten Tür zu meinem Zimmer in seinem Rollstuhl. Er liebte es, in seinem mit Formel 1-Logos verziertem Stuhlgefährt im Atrium dieses Stockwerks um die Kurven zu rasen und dabei Michael Schumacher und Formel 1 zu spielen. Er erzählte mir, daß sein Hautarzt fast zwei Jahre lang die eiternde Stelle am Oberschenkel als normalen Pickel behandelt hatte. Als schließlich ein anderer Arzt erschocken ein malignes Melanom, also schwarzen Hautkrebs feststellte, war es fast zu spät. Schwarzer Hautkrebs muß nicht schwarz sein, habe ich in diesem Krankenhaus gelernt. Auch wenn er wie ein Pickel aussieht, kann er bereits fürs Endstadium ausreichen. Die Lebenszeit ist begrenzt, dachte ich so oft in dieser Zeit. Doch was für einen Unterschied macht letztlich eine Krankheit, die mir diese Gewissheit vor Augen führt, oder die Tatsache, daß dies sowieso klar ist in diesem Leben. Vielleicht sterben die einen früher, als andere an dem Krebs, von dem sie wissen oder nicht wissen. Wer leidet mehr? Wessen Schicksal ist das tragischere? Ist das überhaupt relevant? Wieviel Mitgefühl muß ich als Mensch eigentlich haben? Reicht die normale Dosis überhaupt, die ich in mir spüre? Manchmalm, stelle ich fest, habe ich gar kein Mitgefühl. Muß ich es dann produzieren, so, als würde ich auf eine Tube drücken? An einem jener Tage schaute ich, mit dem Rücken auf meinem leicht hochgestellten Bett liegend, mit nach rechts gewandtem Kopf durchs Fenster hinaus ins Freie. Die Blätter der Bäume wogten im Wind. Ihr Grün schimmerte in unterschiedlichen Tönen und manchmal verwandelte das Sonnenlicht ihre Farbe in ein gleißendes Gelb, das meine Augen blendete. In diesen Momenten spürte ich eine eigenartige Qualität von anspruchslosem Glück. Bedürfnislosigkeit. Nicht einmal der Gedanke “mehr brauchst Du nicht” spukte durch meinen Kopf. Wie fühlen Menschen, die gelähmt sind, dachte ich etwas später. Erleben sie solche Momente intensiver? Kann das Leiden, sich nicht bewegen oder seine entsetzlichen Erinnerungen nicht vergessen zu können, vergehen? Kann man sich vielleicht daran gewöhnen oder hört es gar auf? Darf man mit Behinderten oder traumatisierten Menschen normal umgehen? Ist das überhaupt vergleichbar? Vielleicht erleben die Menschen der unterschiedlichen Parallelwelten alle das gleiche. Vielleicht haben sie ähnliche Glücksgefühle, Sehnsüchte und eine ähnliche Liebe zum Leben, wie ich, wie wir? Doch ein Unterschied scheint bewußt geworden zu sein. Vermutlich wünschen sie sich, wieder in der normalen Welt zu leben. Und sie können es nicht. Vermutlich würden sie sich ihres Schicksals gerne entledigen, aus ihm herausschlüpfen, erlöst oder vielleicht neu geboren werden. Aber sie sind dazu verdammt, es akzeptieren zu müssen. Sie können zwar die Sonne, das Blau des Meers, das Computerspiel oder ihre Sinne ähnlich erleben, wie wir. Und dennoch leben sie in einer anderen Welt. Ich spielte mit dem Jungen einmal an einem Abend Schach. Nachdem er mich besiegte, fragte ich ihn, was denn seine Wünsche seien. Er sagte mir, er wisse genau, daß es Dinge gibt, die er sich nicht mehr wünschen kann. Ein langes Leben zum Beispiel. Sein Wunsch ist daher, wenigstens noch einmal aus diesem Krankenhaus heraus zu kommen und in seiner Schulklasse weiterlernen zu dürfen. Er will seine Freunde sehen und mit ihnen über Blödsinn quatschen. Dann lachte er mich an. Und wir spielten eine weitere Partie.

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