Eine Katastrophe von Format

Bei den Bildern der Menschenketten in Baden Württemberg, die gegen Atomkraft demonstrierten, beschlich mich ein schales Gefühl. Meine ersten Gedanken waren: So eine Katastrophe braucht es also, damit so ein kleiner Protest zustande kommt. Gut organisiert! 60.000, nein 100.000, oder wie viele jetzt? Naja, in jedem Fall viele tausende. Das ist wichtig. Im Anblick einer Mega-Katastrophe braucht es in jedem Fall Mega-Tausende. Demonstrierende, Tote, Flüchtende, Hungernde, egal was, Tausende halt. Beim Betrachten der starr auf Fukushima gerichteten Kameras holt mich der Verdacht ein, das Mitgefühl vieler hier sei mit dem klammheimlichen Schimmer einer perversen Form von Freude belegt: Guttenberg ist vorbei, Libyen langweilig geworden. Da tut eine taufrische Katastrophe gut. Sabberfressen für Wahlkampfstrategen. Sofort findet ein Gefühl bittersüßen Entsetzens seine Genugtuung in wohlorganisierten Vorzeige-Demonstrationen nach dem Modemotto ‚gewaltfrei‘. Sie winden sich wie ästhetische Schlangen tausender sorgenvoll lächelnder und in den Himmel guckender Menschen, ja fast wie künstlerische Installationen, durch die weich fließenden schwäbischen Hügel. Wir protestieren, aber wir sind ganz lieb. Mein Gott, schmilzt der Atomkern in Fukushima? Oder schmilzt er nicht, schade, Mist, versprochen, verdammt nein, ja furchtbar! Aber nur 1000 Tote, nein jetzt immerhin 2000? Na, doch: in dieser nördlichen Stadt mit dem unaussprechlichen Namen, da fehlen noch ein paar tausend Menschen mehr. Ja, zehntausende, das passt schon besser. Hunderttausende fliehen. Tokio beginnt zu hungern. Jetzt bekommt die Katastrophe Format. In dem Informationstsunami, der sich schlammartig über uns ergießt und in seinem Sog unsere Meinungen und Überzeugungen mit sich zu reißen droht, treten die wahren Ursachen für den ganzen Wahnsinn in den Hintergrund. Hier reiben sich die Täter, die wahren Schuldigen, die Hände. “Anti Atomkraft! – Jippiee-Jee!” Der Wahlkampf-Durchmarschierer ist da! Mit ihrem neuen Kampfschrei surfen unsere Politiker schmachtend auf der japanischen Leidenswelle. Sie verkünden ihre ‘neuen’ Anti-Statements, ihr ‚Anti-AKW-Geheule` und ihr ‚Wir-brauchen-mehr-Sicherheits-Trara‘. In ihrer künstlichen Betriebsamkeit lenken sie davon ab, dass sie selbst es sind, die das entscheidende heiße Eisen unserer Zeit nicht einmal mit der Zange anfassen wollen: Die tickende Zeitbombe ist nicht die Atomkraft, sondern unsere Einstellung zu dieser Welt und unser Lebensstil. Erst die dadurch ausgelösten Konsumexzesse, der unkoordinierte, ziellose Produktionszwang und unser gierhafter Verbrauch machen die Atomkraft erst so unverzichtbar. Unsere Gesellschaften definieren menschlichen Erfolg ausschließlich über Rendite, Gewinn- und Machtzuwachs. Ein Gefühl dafür, was wirklicher Wert bedeutet, besteht kaum mehr. Wir hängen fest in einer tragischen Hypnose aus Raffgier, Geiz und Größenwahn, gefangen wie die Mitglieder einer lebensfremden Sekte, die von einem sich selbst glorifizierenden und lobenden System beherrscht wird, aus dem keiner mehr einen Ausweg weiß. Die wirtschaftlichen und politischen Krisen dieser Zeit häufen sich in beängstigendem Maße. Wie oft hat die Wirtschaftskrise in den letzten Jahren plötzlich angefangen, plötzlich aufgehört? Ist das alles glaubwürdig für eine intakte, globalisierte Weltgesellschaft? Fast über Nacht brennt es überall in Nordafrika. Eine Nacht später ist es ein normales Thema. Dann ist Japan da. Die Einschläge treffen häufiger, sie kommen immer näher. Der Wettbewerbsirrsinn der Firmen, die krankhafte Konkurrenz unter Managern und Politikern und uns Menschen überhaupt. In der darin begründeten Empathielosigkeit liegt die gefährlichste Kernschmelze begründet: Die unserer Herzen. Die wirklich heissen Eisen wären Konzepte für den dringenden Bewusstseinswandel. Ihre zügige Umsetzung würde auch bei uns Revolutionen bedingen. Statt dessen drehen sie wieder und spachteln sie eifrig an alten, verrosteten Atomkraftneindankeunddaswarsdann-Schräubchen. Nein, von Politikern ist nichts zu erwarten, als heißer und betördend duftender Wind. Eine fast unheimliche Frage ist daher, ob die erforderliche Veränderung überhaupt aus unserem System heraus geboren werden kann. Mit Sicherheit aber können wir selbst etwas tun, jeder für sich selbst. Verzicht muß und wird die Handlungsmaxime der Zukunft sein. Wir müssen das verzichten lernen und üben, bevor wir dazu gezwungen werden. Japan liefert das erste Beispiel dafür. Grenzt es nicht an eine Perversion, wenn als zweite Meldung nach dem speichelproduzierenden Zahlengewirr um die japanischen Toten und leidenden Menschen die Nachricht vom “Nikkei im freien Fall”  verkündet wird? In jedem Fall wird so jene ‘Zerbrechlichkeit unseres Lebens’ deutlich, von der Präsident Obama am 11. März in seiner Rede gesprochen hat (Schlußworte auf http://www.cbsnews.com/8301-503544_162-20042176-503544.html).  Es wird auch deutlich, wovon der Präsident des angeblich ‘freiesten Landes der Welt’ nicht gesprochen hat: der Zerbrechlichkeit unseres Geldes und wie sehr unser (Über-)Leben heute vom Geld abhängig zu sein scheint. Freiheit kann nicht bedeuten, daß jeder alles tun und kriegen darf. Das wäre Anarchie. Und beinahe neige ich mich ein wenig dem Gedanken entgegen, dass sich unsere Welt in einem anarchieartigen Zustand befindet. Freiheit bedingt Verantwortlichkeit, Disziplin, Respekt…und mehr. Gegen das, was den Menschen in Japan widerfährt, nämlich, daß sie ihre Welt vor den eigenen Augen untergehen sehen, dagegen hilft kein schön und seriös organisiertes Placebo-Demonströnchen in den Schwabenhügeln, dessen Teilnehmer von den politischen Parteien mit lieblichen Trillerpfeiffen ausgestattet wurden. Die Atomkraft muß auf dem schnellsten Wege ersetzt werden. Aber das ist noch lange nicht die Lösung des wirklichen Problems. Auch einzelne Kranke oder Tote sind zu viel, nicht nur Tausende.

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