Nichtwählen!

Wer das tut, bringt unsere Demokratie in Gefahr. Unser bestes aller Systeme. Wer nicht wählt, der ist faul, lasch, unengagiert, er drückt sich vor der Verantwortung. Was also soll man denn tun, wenn einem diese Parteien und ihre Politiker so gegen den Strich gehen, daß es größter Überwindung bedarf, sich zur Wahlurne zu schleppen. Das Blatt Papier anzusehen mit den Kreisen drauf, in die man seine Kreuze neben unsympathische Gesichter kritzeln muß, die man fast alle nicht kennt, die alle ein klein wenig grinsen, ein bißchen, nicht zu viel, so sympathisch wie möglich halt. Halbernst, mittellächelnd, nur nicht zu viel herzeigen. Herzlos. Wie soll ich mich als normaler Mensch durch diesen Politikdschungel kämpfen, dessen informatives Wuchern in dieser Hyperkommunikation pausenlos und ohne Unterbrechung mikrobenartig in mich dringt? Am einen Tag bin ich gegen Guttenberg, am anderen dafür. Am einen könnte ich Gaddafi handgreiflich ermorden. Am nächsten sind ein paar neue Informationen hereingeschwappt und plötzlich erscheint auch die Opposition in Libyen in einem dämmrigeren Licht. Lothar de Maiziere hat gesagt, es gäbe keine Flüchtlingswelle. Den wähle ich nicht mehr. Merkel hat irgendso etwas gesagt, wie daß die Wissenschaft nichts mit Politik zu tun hat. Nicht mehr wählen. Westerwelle empfindet die Bilder der Flüchtlingslager ‘herzzerreißend’. Auf keinen Fall mehr wählen. Ich fühle eruptionsartige Skepsis, wenn ein Politiker sich sprachlich im Schöngeistigen verirrt und seine Ärmel nicht einmal selbst hochkrempeln kann. Gabriel schleimt von den neuerblühten Regierungsvisionen der SPD, Lafontaine schwadroniert vom Kommunismus und der ausrangierte Expulliträger Scharping tönt von wunderbaren Alternativen in Berlin. Ich empfinde nur eines: Auf der ganzen Breite NICHT WÄHLEN. Boykottieren! Mahatma Gandhi hat uns diese Protestform doch einmal vorgemacht. Er nannte sie ‘Sathyagraha’ und warum sollten wir sie nicht in einer neuen Form wiederentdecken? Was also tun, wenn ich neben einem Wähler als Nichtwähler nicht wie eine halbe Portion angesehen werden will, wenn ich nicht lasch und verantwortungslos wirken will, aber so grimmig bin, daß ich wirklich nicht den geringsten Grund sehe, irgendeine dieser Unparteien zu wählen? Was soll ich tun, wenn ich protestierten will und keine Protestkultur existiert, weil alle faul auf den Sesseln hocken, weil sie ja gewählt haben, weil deswegen jetzt die anderen Schuld und Verantwortung tragen und weil sie sich nach dem Kreuzelmachen wieder schön aus allem raushalten und über alles und jeden herummeckern können. Ist unsere Freiheit zu Wählen zu einem Alibi des sich Heraushaltens geworden, Motto: Ich habe ja gewählt, also hab ich mein Soll getan! Was soll ich tun, wenn ich gegen das Erkranken unserer Demokratie, die im Selbstlob zu ersticken droht, etwas tun will? Kann es sein, daß das Wählen bei uns zu einem kollektiven Zwang geworden ist, assoziativ etwa wie das nicht wählen dürfen zum häßlichen Zwang in einer Diktatur? Sicherlich ist mir damit eine gewagte Überlegung entglitten, ich hätte sie vielleicht für mich behalten müssen und ich muß jetzt gleich, nachdem ich sie gesagt habe, leicht lächeln, irgendwie auch der Entschuldigung halber, um die verlorene Sympathie wieder zurückzugewinnen, aber nicht zu sehr lächeln, ein bißchen, so sympathisch wie möglich halt.

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