Integrität – an was sollen wir uns sonst halten?

Aus aktuellem Anlaß:Integrität - an was sollen wir uns sonst halten?

Aus aktuellem Anlaß hier ein Auszug aus dem Teil in meinem Buch, in dems um die “Integrität” geht:

 

“Heute um fünf Uhr beginnt der nächste Kampf gegen Chy-Eun, gleich zu Beginn des Nachmittagstrainings. Während unseres Spaziergangs auf dem Klosterweg fragt mich Karl, warum ich mich mit diesen Freikämpfen so unter Druck setze. Ich weiß auch nicht, wie ich ihm das erklären soll. Seit etlichen Tagen trainieren wir nun täglich hier in den koreanischen Bergen in der Nähe von Seoul. Die Taekwondo-Übungen mit Chy-Eun haben es mir einfach angetan. Zu meinem Faible für den Charme der Koreanerin kommt mein Ehrgeiz, wenigstens einmal einen konzentrierten Kampf mit dieser überlegenen Partnerin hinzulegen, einen Kampf, in dem ich nicht – wie so oft – in einer emotionalen Aufwallung, einer Explosion von Ungeduld oder falscher Profilierungssucht die Konzentration verliere, meine Disziplin aufgebe und meine Vorsätze achtlos über Bord werfe. Das Kämpfen mit Chy-Eun ist für mich in diesen Tagen zu einer Metapher für mein Leben geworden. Außerdem glaube ich, dass ich mich in die bildhübsche, junge Frau ein wenig verguckt habe.

Nein, ich griff nicht nach ihrer Hand, als ich am Vorabend mit ihr in dem kleinen Restaurant ihres Vaters zu Abend aß. Ich traute mich einfach nicht. Ich war so schüchtern, dass ich mich selbst fast nicht wieder erkannte. Chy-Eun zeigte mir, wie man mit Stäbchen die in vielen kleinen Schälchen servierten Köstlichkeiten auf ein Salatblatt legt und sich daraus eine kleine Rolle zurechtdreht. Dabei kamen sich unsere Hände einige Male in  die Quere. Chy-Eun zeigte mir auch, wie sie ihre Hand bei einem Handkantenschlag hält. Sie umfasste dabei meine Finger und bog sie in die richtige Haltung. Und als sie mich fragte, ob ich eine Freundin habe, sagte ich wie aus der Pistole geschossen: „Nein!“ Chy-Eun lächelte mich daraufhin mit einem wissenden Funkeln in den Augen an. Wir beide wussten, dass mein Nein zu schnell gekommen war. Eine Weile aßen wir still weiter. Rein faktisch hatte ich die Wahrheit gesagt und gleichzeitig doch gelogen. Etwas später, nachdem mein Gewissen zu bohren anfing, erzählte ich ihr, dass ich verheiratet bin. Chy-Eun lachte: „Ich bin auch verheiratet. Aber ich mag dich! Das ist nicht verboten, oder?“

Jetzt lachten wir beide. Um ein Haar hätte ich Chy-Eun angelogen und mich dabei selbst verbogen. Wir erzählten uns von unseren Ehepartnern und mit einem Mal waren wir gute Freunde. Die eigenartige Flirtspannung war verflogen.

 

Heute bin ich gegen Lügen eingestellt, so wie ich gegen jede Art von Falschheit bin. Ich finde allerdings nicht, dass man sich gegenseitig immer sofort alles mitteilen muss. Es dreht sich wohl um das richtige Maß und die gegenseitige Erwartung. In jedem Fall ist eine möglichst hundertprozentige Wahrhaftigkeit der einzige angemessene Umgang in jeder Form von Partnerschaft, Freundschaft und auch Geschäftsbeziehung. Andernfalls verstößt man gegen das Gesetz der Achtsamkeit und des Respekts. Auch die vertrauensvolle Beziehung zwischen Regierung und Volk oder Firma und Arbeitnehmer muss mit in diese Definition von der Integrität einbezogen werden. Integrität ist die Umsetzung aller Werte im eigenen Leben und Verhalten.

 

Ist die Wahrheit eine Antiquität?

 

Ich war eine ziemlich lange Zeit meines Lebens Spezialist darin, die Wahrheit zu verbiegen wie ein Schmied das Eisen, anstatt die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie sind. Neben meinen privaten Beziehungen entwickelte ich im Beruf mein eigenes Verhältnis zur Wahrheit. Als Werbe- und PR-Fachmann war ich oft damit konfrontiert, ausweglose Situationen zu kommunizieren. Die Wahrheit so zu belassen, wie sie war, wäre für mich und meine Kunden manchmal sehr schmerzhaft gewesen. Ich musste also „kreativ“ werden. Ich wurde dafür bezahlt, Imageprobleme zu lösen. Der Job eines PR-Managers ist wie eine Art Wirklichkeitsdoktor. Wenn meinen Kunden ihre Realität nicht gefiel, riefen sie mich an. Ich begann, mit Werbeslogans und Pressetexten neue Wahrheiten zu dichten. Ich ließ alles Unangenehme, Unpassende einfach weg und spachtelte neue Bilder darüber. So gelang es mir, für Kunden ein positives Image zu erzeugen und die Öffentlichkeit positiv für sie einzunehmen.

Der Umgang mit der Wahrheit kam mir irgendwann so vor, wie der mit einer nicht mehr ganz intakten Antiquität: Laut Gesetz ist es in den vielen Ländern erlaubt, Möbel auch dann als Antiquitäten zu bezeichnen, wenn sie nur zum Teil aus altem Originalmaterial bestehen. Hierfür gibt es genaue Richtlinien. Es ist von daher in dieser Branche, die mit alten Wertgegenständen handelt, durchaus üblich, in der gesamten Welt nach alten Holzgestellen oder Scherben zu suchen, die einmal ein Möbelstück waren, und sie mit neuem Material wieder in ihre  alte Form zu bringen. Das Objekt darf dann „Antiquität“ genannt und entsprechend teuer verkauft werden. Dem Käufer muss das meistens nicht einmal gesagt werden. Es gilt als „restauriert“. Den Umgang mit meiner eigenen Wirklichkeit empfand ich irgendwann einmal ähnlich: Ich war ein Antiquitätenhändler von Wahrheiten geworden. Ein ziemlich wertfreies Geschäft.

 

Das Einverständnis und die Lüge

 

Selbst wenn du alleine auf der Welt wärst, würdest du um deine eigene Integrität nicht herumkommen. Integrität ist auch in Bezug auf dich selbst der Maßstab für die Werthaltigkeit deines Lebens. Beziehungen sind auf der Basis von Lügen nicht möglich. Vermeide jede Unkorrektheit. Sie führt dazu, dass du überlegen musst, ob du in einer Situation lügen sollst, und damit deine Integrität verlierst. Führe ein Leben, das keine Lügen braucht. Notlügen? Sicher, es gibt immer etwas zu diskutieren. Werte sind keine Gesetze, kein in Stein gehauenes Monument. Notlügen mögen in Maßen gerechtfertigt sein, vielleicht in der einen oder anderen Ausnahmesituation, um jemanden nicht unnötig zu verletzen oder zu beunruhigen. Aber die Notlüge ist ein gefährliches Glatteis. Sie neigt dazu, als Alibi für die wirkliche Lüge missbraucht zu werden. Zu leicht wird jede Lüge plötzlich Notlüge genannt. Dazu zählen ganz besonders auch die Halbwahrheiten. Die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir hatte einmal die Auslassung als die hinterhältigste Lüge von allen klassifiziert. Wenn man voll glaubt, benötigt man auch die volle Wahrheit dazu.

In dem Moment, in dem die Lüge in dir aufsteigt, ist es bereits zu spät. Im Vorweg ist etwas  falsch gelaufen. Die Lüge kann keine Lösung sein. Wenn du so weit bist, die Lüge auch nur zu erwägen, stimmt etwas Grundsätzliches mit der Integrität deines Lebens nicht. Lebst du deine Werte, hast du sie in dein Leben integriert? Kennst du sie überhaupt?

Wenn du jemandem etwas sagst, so hört er das. Er nimmt es in sich auf, und es wird ein Teil in seiner Welt. Er nimmt das Gesagte für bare Münze, da er vom Grunde her Vertrauen zu dir hat. Auch wenn dir etwas gesagt wird, so nimmst du das an, frei und frank. Dieses unausgesprochene Einverständnis über die gegenseitige Ehrlichkeit existiert automatisch in allen Partnerschaften und Begegnungen. Sie ist eine Grundvoraussetzung für Beziehungen und dafür, dass wir einander authentisch und ehrlich begegnen. Indem du anderen glaubst, ihnen vertraust, werden sie Bestandteil deiner Wirklichkeit. Genauso werden andere dir vertrauen, dass du die Wahrheit sagst. Mit ihrem Vertrauen wirst du selbst zum Bestandteil ihrer Wirklichkeit. Wenn eine Lüge darin enthalten ist, so ist das eine der tiefsten Verletzungen überhaupt. Wenn du lügst, so brichst du das eherne Gesetz des Einverständnisses über die gegenseitige Integrität. Genauso ist es auch in deinem Verhältnis mit dir selbst. Zu Lügen ist ein doppeltes Vergehen. Du respektierst die eigene Wirklichkeit nicht und auch nicht die des anderen. Ehrlichkeit und Lüge existieren nur in einer Welt, in welcher man sich zwischen einer der beiden entscheiden muss. In einer integren Welt ist kein Platz für die Lüge. In ihr lebt die Wirklichkeit der Werte.

 

Die Verführung ist der größte Feind der Integrität. Lasse dich nicht verführen. Nicht von Geld, nicht von Angst, nicht von Macht und schon gar nicht von der Faulheit. Lass dich auch nicht von früher ausgesprochenen Lügen und deiner mangelnden Integrität aus einer früheren Zeit unter Druck setzen und verführen. Das bringt dir nichts, außer Schwierigkeiten und belastet deine Seele. Es ist leicht, zu lügen, die integre Haltung aufzugeben. Da jeder Mensch verschieden ist, können wir nicht jedem alles auf die gleiche Weise sagen. Authentizität kostet schon ein wenig Mühe. Die richtigen Worte für einen bestimmten Menschen in der betreffenden Situation zu finden, erfordert Aktivität und Engagement. Die Lüge funktioniert schneller und einfacher. Lügen ist eine passive Handlung. Ehrlichkeit ist aktiv. Die Lüge ist pauschal anwendbar, doch ihre Folgen sind unabsehbar. Ihr Preis ist sehr hoch und vor allem nicht kalkulierbar.

Als integrer Mensch hast du die Werte und die Regeln des Lebens zu deiner Philosophie gemacht. Aber lebe sie nie als starres Gesetz. Sie stellen Erkenntnisse dar, die über Jahrtausende durch Erfahrungen gewachsen sind. Im spielerischen und freien Umgang mit ihnen, wirst du ihnen die Seiten abgewinnen, die deine eigenen sind. Entsprechend deinem Herzen und deinem allumfassenden Bewusstsein.

Vielleicht verspürst du bei dem Begriff „Wert“ oder „Integrität“ einen Widerstand, ganz so als würden sie Regeln darstellen, oder Gesetze unserer Gesellschaft. Oder du spürst Widerstand, weil du unangenehme Kindheitserlebnisse oder Ereignisse bei der Arbeit damit verbindest, in denen du reglementiert, ermahnt, bestraft oder zur Rechenschaft gezogen wurdest. Mach dir diese Vorbehalte bewusst und setzte dich über sie hinweg. Gib dem Wort deine eigene Bedeutung. Formuliere einmal aus, was es für dich bedeutet. Und vergegenwärtige dir ein paar relevante Beispiele aus deinem Leben. Du selbst musst letztlich die Werte und ihre Relevanz für dich erkennen und individuell für deine jeweilige Situation definieren. Entdecke die dir innewohnende Integrität selbst.

 

Das Image der Integrität

 

Oft wird der Begriff der Integrität besonders auf Persönlichkeiten und Handlungen bezogen, die mit offiziellen Ämtern oder dem allgemeinen Berufsleben zu tun haben. Nicht selten schimpfen wir über Politiker oder Wirtschaftsbosse und deren mangelnde Integrität. Da man die Integrität so ungern in aller Präzision bespricht, führt sie ein blühendes Dasein als Image. Unser Image von Managern beinhaltet zur Zeit, dass sie nicht sonderlich integer sind. Gleiches gilt für Politiker. Auch Einwanderer sind von diesem Bild betroffen, weil eine Pauschalmeinung grassiert, dass sie sich nicht richtig integrieren lassen. Es ist neuerdings üblich, mit ungenauen Beschuldigungen und angelesenen Zahlen wild auf allen möglichen Gruppierungen herumzuhauen. Was soll man auch tun? Einfach so weitermachen, ohne zu schimpfen? In Wirklichkeit fehlt uns ein Gefühl dafür, wie wir sinnvoll und effektiv protestieren, was wir tun können und dürfen und was einen Sinn ergibt.

Sind wir selbst überhaupt noch integriert? Es fehlt das Gefühl für eine Verankerung in einer wertvollen Substanz, ein Ziel und ein gemeinschaftliches Gefühl der Verantwortung. Nach dem Krieg waren das die frisch geborene Demokratie und der Wiederaufbau. Jahrzehntelang wurde unsere Suche nach Halt in einem Wertesystem von der Polarisierung zwischen Ost und West, dem kalten Krieg, und den daraus resultierenden Reibungen, Protesten und Sehnsüchten geprägt. Danach hielten uns der ungebremste Wirtschaftsboom der 90er-Jahre und die bahnbrechenden Errungenschaften der Technik in Bann. Vor allem die Neuerungen der Kommunikationstechnologie, von den audiovisuellen Medien bis hin zum Handy, verursachten in kürzester Zeit umwälzende Veränderungen und sorgten dafür, dass unser Bedürfnis nach Sinn nicht beachtet wurde. Jetzt sind wir plötzlich globalisiert. Wir beginnen uns mit Menschen aus der ganzen Welt zu vermischen. Das haben wir so gewollt und deswegen müssen wir auch die Konsequenzen tragen.

Wenn man sich die gesamte Zeitspanne nach dem zweiten Weltkrieg betrachtet, weit über 50 Jahre, so gab es lediglich in den 60er und 70er Jahren eine Atmosphäre, in der Intellektuelle ein öffentliches Podium fanden und unsere Gesellschaft sich breitenwirksam mit dem Sinn des Lebens, unseren gesellschaftlichen Zielen und den Werten beschäftigte. Die Jahre des RAF-Terrorismus und seiner Bekämpfung, die nicht enden wollende Problematik zwischen Israelis und Palästinensern sowie die Attentate islamistischer Terroristen und Amerikas Reaktion darauf haben jedoch jene aufkeimende Sinn- und Wertekultur von damals im Keim erstickt. Zynische Phrasen wie „Leiden auf hohem Niveau“ und „Geiz ist Geil“, Modebegriffe wie „Nachhaltigkeit“ und „commitment“ grassieren im Sprachgebrauch und stellen hohle Formeln dar, die wir ohne ein tieferes Verständnis für ihre wirkliche Bedeutung verwenden. Das Image vieler wichtiger Worte ist gleich ihr Inhalt geworden. Doch die Integrität ist kein Image. Sie ist ein inhaltlich hochkomplexer Wert in unserem Zusammenleben. Und Zusammenleben ist eine Aktivität. Es funktioniert nicht automatisch. Anstatt nach neuen modischen Labeln für seinen Inhalt zu suchen, sollten wir dafür sorgen, dass dieser Begriff nicht ständig überstrapaziert wird und zu einer leeren Hülle verkommt.

 

Die Bedeutungslosigkeit der eigenen Meinung

 

Unsere Individualität  wird maßgeblich durch unsere innere Haltung und Meinung bestimmt. Die Bedeutung unserer eigenen Meinung steht und fällt damit, wie wir uns als Individuen von anderen abheben und unterscheiden. Doch im digitalen Zeitalter sind wir heute einer Art Inflation der Meinungen und Informationen ausgeliefert. In unserer Wahrnehmung verliert unsere eigene Meinung inmitten der Milliarden Statements der digital-medialen Welt zunehmend an Bedeutung, ganz wie ein Wassertropfen im Meer. Wohin soll sich unsere eigene Meinung denn noch richten? Und wozu irgendeiner Meinung besonderes Gewicht beimessen, wenn sich selbst die Meinungen unserer Leitfiguren quasi auf ein Fingerschnipsen hin wieder ändern können? Richten wir uns nach Gesichtern und Köpfen? Nach Chat-Foren im Internet oder nach Parteien?

Auch das Tempo ist heute um ein vielfaches schneller, was die Prozesse der Meinungsbildung unkalkulierbarer denn je macht. Unsere objektive Meinungsbildung kommt nicht mehr mit. Die Meinungs-Tsunamis, wie sie etwa von den Integrationspredigern entfacht werden können, zeugen davon, wie leicht große Massen verführbar sind. Es bleibt uns nicht mehr die Zeit, sich sinnvoll mit all dem beschäftigen. Zu schnell schwappen immer wieder neue Meinungen über uns herein. Es fehlt ein Koordinatensystem für unsere Orientierung, wie zum Beispiel ein breites Verständnis für Werte.

Die Unschärfe und Untiefe des Umgangs mit unseren Meinungen wird zunehmend zu einem gefährlichen Boden für Entwicklungen, die wir nicht mehr unter Kontrolle haben. Die Folgen sind unabsehbar. Aus solchen Fehlentwicklungen können in der Zukunft möglicherweise  Einschränkungen unserer Freiheit resultieren. Sie stellen eine Bedrohung unserer Lebensqualität und der freien Gestaltungsmöglichkeit unserer Gesellschaft dar.

Ohne eine Neuorientierung und Zielbestimmung kann unsere Demokratie schnell in eine akute Gefahr geraten. Wir müssen den in Freiheit schwelgenden Internetgemeinden  eine klare Richtung aufzeigen, die dafür sorgt, dass unsere Integrität und unsere Werte gewahrt bleiben. Dabei darf die Freiheit nicht eingeschränkt werden. Doch wir sollten ein klares Ziel vorgeben, wohin wir mit all diesen Errungenschaften der Kommunikationstechnologie wollen. Welche Bedeutung sollen sie in unserer Gesellschaft haben und welchen Stellenwert in der nahen und fernen Zukunft? Für das Tempo und die Unberechenbarkeit, in welcher Images entstehen können, und für die gewaltige Gefahr ihres Missbrauchs hat unsere Welt ausreichend tragische geschichtliche Erfahrungen gemacht. Höchste Zeit, dass wir uns das bewusst machen und uns darum kümmern, dass sich die alten Fehler nicht in einer modernen Cybermutation auf schreckliche Weise wiederholen.

 

Keine Notlügen mehr!

 

Integrität bedeutet, die Werte in sein Leben zu integrieren und aktiv umzusetzen. Wenn man diese Möglichkeit undogmatisch anwendet, bietet eine integre Lebenseinstellung ein Selbstregulativ, durch das auch die Ruderführer unserer Gesellschaft ihre Rhetorik in Richtung Glaubwürdigkeit weiterentwickeln und schärfen könnten. Ein integrer Politiker und Manager darf keine falschen Wahlversprechen oder Prognosen machen. Er muß seine Arbeit und seine Entscheidungen ausschließlich am Problem orientieren und nicht an seinen eigenen Interessen oder denen der Partei. Mit seiner Courage, die Wahrheit zu sagen, würde der integre Politiker Bewusstsein für die Werte schärfen. Schließlich ist er ein Vorbild. Er sollte insbesondere stimmenwirksame oder populistische Statements in Talkshows vermeiden und sich um die  Vermittlung ernsthafter Thesen und um die Vermittlung von Authentizität und Wahrheit bemühen. Keine Notlügen mehr!

Ein sich über die Werte definierender Politiker würde so eine wirkliche Verantwortung in der Partnerschaft mit seinen Wählern, den Bürgern ausüben. In einem Klima der gelebten Werte würde sich auch die pauschale Politikerschelte schnell reduzieren. Der Politiker muss nicht für immer und ewig die Unperson der Nation bleiben. Welch andere Chance haben wir, als die, uns tiefer mit den Werten und Inhalten unseres Lebens zu beschäftigen und sie zurück zu integrieren? Vielleicht mag der gedankliche Ansatz ein wenig utopisch wirken. Er wird aber umso realer, je mehr Menschen mitmachen. Eigentlich entspricht er unserer Natur. Es ist normal, die Wahrheit zu sagen, und nicht etwa umgekehrt.

 

Integrität hat nichts damit zu tun, wie ein Mensch aussieht, welches Amt er inne hat und auch nicht, wie wenig oder wie viel er verdient. Der Anspruch der Integrität ist an jeden zu richten. An Sozialhilfeempfänger genauso, wie an diejenigen, die wegen ihres Wohlstandes leicht aus unserer Welt abheben. Wir sollten nicht den Fehler machen, ganze Berufsgruppen oder Branchen zu brandmarken und ihnen mangelnde Integrität vorzuwerfen. Nur weil einer Manager oder Politiker ist, kann man ihm keine Vorwürfe machen. Nur weil die Medien manchmal Unsinn produzieren, ermangelt es ihnen nicht gleich generell an Integrität. In all diesen Bereichen arbeiten unzählige Menschen mit Leidenschaft, sie bewältigen ein immenses Arbeitspensum mit dem Herz auf dem richtigen Fleck. Wahrscheinlich gibt es derer viel mehr, als es nicht integre Menschen gibt. Die Integrität ist ein so umfassender Wert, dass er einer tiefgreifenden Betrachtung bedarf. Es ist das Image, welches zur Gefahr wird, weil uns darüber die tiefere Bedeutung unserer Werte nicht mehr genug bewusst ist. Leider macht immer mehr das oberflächliche Bild von Handlungen das Image der Integrität aus und nicht der dahinter steckende Inhalt. Wir leben in einem System, in dem es bis in den letzten Winkel an einem tieferen Verständnis für den Wert der Integrität mangelt, obwohl sich ein jeder für integer hält.

 

Die Integrität von uns allen

 

Unser Anspruch der Integrität lässt sich nicht durch Gesetze, Überwachungsmöglichkeiten und Kontrollformen ersetzen, ganz gleich wie massiv sie eingesetzt werden. Im Gegenteil, zu viele Regeln schränken unseren Lebensspielraum ein. Sie erzeugen eine Entfremdung von unseren Werten und machen uns eben gerade glauben, sie ließen sich dadurch ersetzen. Ein Regelwerk voller Kontrollmechanismen vermittelt die Illusion, dass wir wegen der vielen Kontrollen selbst nichts mehr tun müssen.

Zu viele Regeln beschädigen unser Bewusstsein für die eigene Verantwortung und untergraben unsere Bereitschaft für eine aktive, selbstständige Lebensführung. Wirtschaft und Politik haben einen dramatischen Nachholbedarf in punkto Integrität. Diese Dringlichkeit kann man gar nicht genug betonen. Das glorreiche Wort „Demokratie“ bedeutet nicht, dass dieses System automatisch die Werte integriert und praktiziert. Aber ihr Image impliziert den weit verbreiteten Irrtum, dass man sich um nichts mehr kümmern muss.

Wenn wir unsere gesellschaftliche Verfassung kritisch betrachten, erscheint der Begriff „Demokratie“ wie ein Schutzschild, hinter dem vielerorts die Verantwortung für die Gemeinschaft aufgegeben wird und jeder nur noch auf sein eigenes Wohl bedacht ist. Auch das ist ein Zeichen mangelnder Integrität. Es scheint keine gemeinsamen Probleme mehr zu geben, sondern nur noch die eines jeden Einzelnen. Dabei richtet sich der Anspruch der Integrität an jeden Einzelnen und alle Gruppen im gleichen Maße. Er richtet sich an diejenigen, die die Stimmenwirksamkeit ihrer Entscheidungen und Äußerungen über Vernunft und Logik stellen und daher nicht die Probleme anpacken, die wirklich dringend gelöst werden müssen. Der Anspruch der Integrität verweist auch auf jene, die ihre Karriere und ihre finanziellen Einkünfte und unternehmerischen Entscheidungen über das Wohl der Gemeinschaft stellen, in der auch sie leben und ohne die sie nicht niemals existieren könnten. Er richtet sich auch an diejenigen, die über all diese Institutionen und Firmen berichten und nicht zuletzt an die Leser solcher Berichte. Jeder ist verantwortlich, jeder ist zuständig. Die Gemeinschaft ist nie der Alleinschuldige. Die dumpfen und unheimlichen Nachwehen eines der wert-losesten und unmenschlichsten Systeme der Geschichte, des Dritten Reiches, sprechen auch darüber Bände: Keiner war schuldig, keiner will etwas gewusst haben.

Lernen wir selbst aus der schlimmsten Erfahrung nichts? Intellektuelle und Künstler, die früher Organe der Ermahnung und Erinnerung waren, finden in unserer durch Einschaltquoten und Werbevolumen bestimmten Medienwelt nur noch selten ein breites Forum. Wie viel Werbung wäre denn ein Philosoph wert, wie viel ein Künstler? Beiden müsste man länger zuhören, als es dauern würde, bis die Quotenmessungen massive Kapriolen anzeigen würden. Intellektuelle und Künstler führen, was ihre Öffentlichkeitswirksamkeit anbelangt, heute ein Dasein in der Nische oder im Hochkommerz – wenn sie von der Vermarktungsindustrie entdeckt worden sind. Letztere bewertet allerdings kaum den Inhalt ihrer Kunst, sondern deren Image und damit lediglich die Marktwirksamkeit.

Oscar Wilde sagte einmal, dass der Zyniker ein Mensch sei, der „von jedem Ding den Preis kennt, aber von keinem den Wert“. So gesehen bestünde unsere marktwirtschaftliche Gesellschaft fast nur noch aus Zynikern.

Es dreht sich heute doch tatsächlich nur noch um den Preis und die Profitabilität von Produkten und übrigens auch von Arbeitsplätzen. Ihr inhaltlicher Sinn oder ihr wahrer Wert sind kaum mehr relevant. Egal ob dies eine zufällige Entwicklung ist oder eine gezielte: Es ist in jedem Fall eine, die nur durch Verantwortungslosigkeit, Disziplin- und Respektlosigkeit der Mandatsinhaber unserer Gesellschaft entstehen konnte. Sie offenbart den Totalausverkauf unserer Werte.

 

William Shakespeare legte seiner Figur Brutus im Drama „Julius Cäsar“ eine treffliche Aussage in den Mund: „Der Missbrauch des Amtes liegt vor, wenn Macht sich vom Gewissen trennt.“ In der tieferen Bedeutung dieses Ausspruches haben nicht nur Menschen in öffentlicher oder auch privatwirtschaftlicher Funktion ein Amt inne. Auch das Leben selbst, unser Miteinander und die Gemeinschaft mit der Natur sind Ämter. Ämter die wir alle bekleiden. Der römische Senator Brutus bezieht seine Äußerung auf  die politische Situation im alten Rom. Brutus wird von einer regierungsfeindlichen Lobby mit vielen Tricks und Schlichen zum Tyrannenmord an seinem Freund Gajus Julius Cäsar aufgestachelt. Das stärkste Druckmittel der Verschwörer ist Brutus’ eigene Eitelkeit und seine Verführbarkeit hinsichtlich seines persönlichen Machtzugewinns. In seinem inneren Entscheidungskampf stellt Brutus fest, dass er selbst Cäsar eigentlich nur als jemanden kennt, dessen „Verstand nicht vom Trieb beherrscht“ ist, also als einen integren Menschen. Vor seinem Gewissen kann Brutus keinen Grund für einen Mord erkennen. Um den Mord dennoch vor sich selbst zu rechtfertigen, redete sich der Senator die Gründe dafür theoretisch ein. Er entwirft in seiner Phantasie ein Szenario davon, was passieren könnte, wenn Cäsar sein Amt plötzlich missbrauchen würde. So trennt er sich selbst, fast ohne es zu bemerken, von den Grundsätzen seines eigenen Gewissens. Obwohl der Senator selbst definieren kann, was Machtmissbrauch ist, belügt er sich selbst so überzeugend, dass er sich scheinbar reinen Gewissens zu der grausamen Tat durchringen kann. Selbst seine Ehefrau, die intuitiv spürt,  welche Veränderung in ihrem Mann stattfindet, lügt er an, weshalb er sie später verlieren wird. Sie nimmt sich aus Verzweiflung das Leben. Brutus missbraucht nicht nur sein politisches Amt, sondern obendrein auch das Vertrauen seiner Frau. Ihm ist die Wahrheit ja bewusst. Er sieht, dass seine Frau sie ebenso spürt. Und trotzdem verleugnet er sie. Brutus wirft damit auf katastrophale Weise das gesamte Gebäude seiner Werte, also seine Integrität, über Bord und stürzt das römische Reich ins Chaos. Kriege und schlussendlich die verheerende Auflösung des römischen Imperiums sind die Folge. Wir können heute lediglich noch ein paar seiner Ruinen bewundern.

 

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