Gott ist eine Frau

getlivedocAus einem Essay von Christian Seidel für “Emotion” (09/14): Als ich aus der Frauenperspektive die Männer sah, farblose, verzwungene, zusammengehaltene Wesen, bekam mein Weltbild einen Riss: Konnte es sein, dass ich niemals verstanden hatte, was Weiblichkeit ist? Unentwegt versuchten diese Typen, Eindruck zu machen, indem sie Leistungen vollbrachten. Oft überflüssige. Verstohlen sahen sie mich dabei an, immer auf den Teil meines Körpers, der sich unterhalb meines Kopfes befand. Fast fühlte ich mich wie ein Schleckeis auf zwei Beinen. Ich genoss diese Aufmerksamkeit anfänglich. Sie war neu für mich. Doch schnell empfand ich sie als Bedrängung. Ich entwickelte Männer-Vermeidungsmechanismen: Rechtzeitig die Straßenseite wechseln, wegdrehen, mich nicht allzu sexy kleiden.

Frauen sind für Männer Objekte ihrer Begierden. Als ich einmal an einem Straßencafè vorbeiging, spürte ich, was ich aus meiner Erfahrung als Mann kannte: 90 Prozent der Männer, die dort saßen, ziehen eine Frau in ihrer Phantasie gar nicht erst aus. Sie sehen sie übergangslos nackt. Erst danach kommt in ihrem Innenbild wieder Kleidung drauf. Damit Verführungskünste zelebriert werden können. Dann zappen die Männeraugen drei Möglichkeiten durch: Beine-Busen-Lippen. Am Ende mündet ihre Fantasiereise im immergleichen Check: Bett-gut-schlecht? 

Die restlichen 10 Prozent betrachten Frauen als ästhetische Gesamtanregung. Ein paar Fetischisten heften ihre Augen wie Saugnäpfe an Fußknöchel, an Seidenstrümpfe oder Sekretärinnenbrillen. Ja, es mag auch ein paar Asexuelle geben. Sie nehmen alles wahr, nur nicht das, was sie anturnen könnte. Diese Spezies hatte mich schon immer ratlos gemacht.

Ein zweites Mal war ich bei meinen Wanderungen zwischen den Geschlechterwelten über mich selbst schockiert. Denn als ich zurückkehrte, empfand ich das Mannsein als Reduktion. Es hatte etwas Trostloses. Es war plötzlich so vieles nicht mehr erlaubt: Ich durfte mich nicht mehr schön machen. Jubeln, lachen, weinen, wann ich wollte, war verpönt. Nur bestimmte Kleidungsstücke waren genehmigt. Alles Weibliche war tabu. Erst jetzt, nachdem ich aus der Frauenwelt kam, fiel mir auf, wie sehr die Männer Weiblichkeit aus ihrem Identitätsbild ausgrenzten.

Bald wollte ich daher wieder wie eine Frau leben. Ich hatte von einem verbotenen Apfel gekostet. Und ich war glücklicher geworden, vollständiger. Lebten Frauen ein kompletteres Leben? So fühlte es sich jedenfalls an und davon wollte ich mehr haben. Die Frauen lebten für mich im Paradies. Vielleicht mag das übertrieben klingen. Aber als ein lebenslang in ein rigides Rollenklischee eingepferchter Mann empfand ich das subjektiv so. Die sexistische Bedrängung, die subtile Herabstufung der Fähigkeiten, all dies störte mich als Frau weniger. Denn ihre Welt  war zu meiner Überraschung freier, als die der Männer. Als Frau durfte ich mich verhalten, wie ich wollte (auch männlich), und galt immer als vollständige Frau. Das „richtige Mannsein“ stieß dagegen schon beim kleinsten Hauch von Weiblichkeit an seine Grenzen. Und wenn ein Mann werktags in kurzen Hosen durch die Stadt lief, fragte man sich: Ist der Typ im Urlaub? Warum arbeitet er nicht?

Frauen personifizieren Weiblichkeit. Daher grenzen die Männer auch Frauen aus. Sie haben sich eine Männerwelt geschaffen, in der wie in einem totalitären Staat die Frauenquote durchgeboxt werden muss. Doch dabei haben sie übersehen, dass sich die Frauen längst ihre eigene Welt geschaffen haben. Frauen brauchen heute keine Männer mehr. Sie können sich selbstständig versorgen. Und fürs Kinderkriegen stehen Spermabanken zur Verfügung.

Solange die Männer an ihrem veralteten Rollenbild festhalten, werden sie niemals merken, was ihnen entgeht: Die Möglichkeit, viel selbstbestimmter und mehr mit den Frauen zu leben.

Nicht zuletzt könnte ihnen die Einsicht weiter helfen, dass auch Männer von den Frauen geboren werden. Nicht von Männern. Und nicht vom lieben Gott. Denn auch der muss eine Frau gewesen sein, wenn er auch nur einen einzigen Menschen gezeugt hat. Christian Seidel

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