Verschwunden – Über den Totalitarismus der Worte

Alles geht irgendwann einmal aus für uns. Außer die Worte. Ja genau, darum dreht sichs mir schon wieder. Troststrohhalme sind sie nämlich nur, nicht viel mehr. Sie können so wunderbar beschreiben. Und ja, die Sprache ist etwas absolut Einzigartiges. Selbst das Allerletzte und das absolut Hirnrissigste ist nämlich in Worte eingebettet. So wie auch immer du willst. Wie in winzige, samtene Särge unseres Seins. Schmieröl für die rostigen Gelenke unseres Gehirns. Damit dort droben nur ja nie was zur Ruhe kommt. Sogar das Nichts wird mit Worten umzingelt, beträufelt und beschossen, bis es in ihnen ertrinkt und verschwimmt wie eine Wasserspiegelung.

Sie lassen uns ja nicht einmal mehr das Nichts im Ringen um den schnellen Kommentar, den allerletzten Gag, den Superkniff, die Erleuchtung oder die allerendlichste Lösung unseres Rätsels. Daher muß diese kollektive Depression rühren.

„Also ich bin nicht depressiv.“ Fünf Worte. Und sonst?

 

Worte sind zu schlingenden Hydra-Armen geworden. Endlos überschätzt und durch ihre Inflationierung mißbraucht. Wir hatten sie einst als Werkzeuge entwickelt, für die Verständigung. Nicht für mehr. Schön, wir hatten begonnen, mit ihnen unsere Kultur zu formulieren und Theaterstücke, Opern, Reden und Humor zu schreiben, in Liebesbriefen um Worte für das Geständnis unserer Gefühle zu ringen. Und da war diese wunderbare Literatur. Doch irgendwann gab es nichts mehr, was kein Wort hatte. Wir hatten begonnen, sogar unsere Herzen, die Liebe und den Sinn in sie zu pferchen!

 

„Du! Ich hab dein Herz gefühlt!“ So begannen wir unsere Empfindungen mit Wortzeichen einzugittern. Wir lebten plötzlich nicht mehr, sondern beschrieben uns nur noch: Menschliche Universen mitEmotionen, voll pochender Herzschläge und Instinkte. Ausladend wuchernde Sinneswesen, so empfindsam wie hypersensible Nervenenden, die das aber ums Verrecken nicht zugeben wollen. So zerrissen, so kraftvoll und so visionär, wie es eben nur Menschen sein können. Ganze Industrien begannen sich um die Worte zu ranken. Die Papierherstellung, die Baumabholzung, die Post, Verlagshäuser, Schreibstift-, Schreibmaschinen- und Schreibtisch-Fabriken, die Gestalter von Hochzeits- und  Todesanzeigen und der Konsumgüterwerbung, Grabsteinbeschriftungen und schließlich sogar die bedeutendste Industrie unserer Zeit, wohl die aufgeblähteste der Geschichte überhaupt und vielleicht die dominierendste unserer zukünftigen Existenz: Die digitale Kommunikationswelt. Sie gibt uns die neue und die absolute Wirklichkeit vor. Eine aus Worten.

Ereignisse, Erlebnisse, Gefühle und unser gesamtes Verständnis über das Leben sind zu Worten geworden. Selbst wenn wir schweigen, wortegaukelt es heute in uns unaufhörlich, in einer fast krankhaft und kaum abstellbaren Manie.

 

So wunderschön sie auch sein können, so sehr speien wir sie doch allzuoft wie Hustenbakterien aus. Und in oraler Gier schlürfen wir sie wieder in uns herein, als würden wir uns selbst beküssen. Auch wenn wir still sind. Dort tief in uns drinnen quellen sie weiter. Teigkuchenartig. Schaumig und geschwürig. Auf alles sofort reagierend. Hochinfektiös. In dieser Zügellosigkeit ist unser Bewusstsein zum einem geblähten Wortemagen mutiert, voller unbesiegbarer Worteviren, die unsere Seelenschirme durchlöchert haben.

Einer, der es  so mit den Worten hat, ohne das zu bemerken, kann sich selbst nicht helfen. Er hat sein Bewusstsein an sie abgegeben. Er ist in ihnen verschwunden, der Illusion folgend, daß nur sie das Leben sind, in dem er sich befindet.

 

“Ja, ich denke ja genauso, jaja, ich kann denken, wie Ihr wollt!” Die Verdrehung der Wirklichkeit geht ganz leicht. Ich könnte dies alles auch anders herum formulieren: Worte sind wunderbar! Sie sind unsere Sprache, unser Verständigungsmittel! Ohne sie könnten wir keine Kompromisse finden, keine Einigungen. Wir könnten keine Liebesschwüre und Ehegelöbnisse ablegen. Unsere Beziehungstraditionen zwischen Mann und Frau wären allerdings kaum noch durchführbar. Und was wäre schon mit unserer politischen Gemeinschaft und unserer tollen Kultur, wenn es die Worte nicht gäbe. Sagt das nicht einiges aus?

Genau so irrelevant ist eben das Wortespiel. Worte haben nämlich kein Herz. Sie verformen ganze Welten, so, wie wir es gerade wollen oder müssen. Sie machen Gutes scheinbar schlecht und Schlechtes vielleicht gut, sie konstruieren Polaritäten, die es oft gar nicht gibt, je nachdem, wie sie aneinandergereiht und wie sie interpretiert werden. Sie irren unentwegt herum, als unser Gesagtes, Gemeintes, Geschrienes, Gejammertes und Gejubeltes. Sie haben uns durchdrungen.

 

Es ist dieser Totalitarismus der Worte in uns, der unmerklich immer mehr nach draussen dringt. Er infiltriert unsere fühlende Gemeinschaft und löst all das auf, was uns eigentlich so unvergleichlich wunderbar gemacht hat. Er trifft mitten in unsere Herzen. In unsere Individualität, unsere eigene Meinung, die schillernden Farben unserer Persönlichkeiten. Seine Gefahr liegt in der Unfassbarkeit, woher das Problem eigentlich kommt. Es gibt keinen Feind, den man stürzen kann. Das macht Revolutionen fast unmöglich. Die Doktrin der Worte ist zum beherrschenden Teil der Gesellschaft geworden. Diese Welt wird weiterhin „Demokratie“ heissen. Und die Menschen kuscheln weiter mit ihrem Lieblingswort „Freiheit“. Sie werden deswegen niemals selbst über sich sagen, allein für diese Katastrophe verantwortlich gewesen zu sein. Sie protestieren ja schon nicht einmal mehr. Vor lauter Worten hat es ihnen die Sprache verschlagen.

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