Der Stein der Weisen

Er ist hart. Und das macht ihn banal. Es ist keine besondere Erfahrung, wenn man bei Steinen nur die Härte empfinden kann. Menschen können Steine werden. Und wenn sich solche Menschensteine fortwährend Kraft ihrer Profession mit der Steinerweichung beschäftigen, tut sich ein großes Fragezeichen auf, warum es dennoch immer bei dieser Härte bleibt. Menschen, die das tun, sie bauen Mäuerchen herum um ihre Steine. Sie schließen ihre Herzen aus.

 

Sie lassen Wasser um ihre Mäuerchen fließen, über deren Bewegung sie ihr Leben lang sprechen und die sie analysieren. Immer mit der Aussage: Wir suchen. Aber es muß schon klar sein, daß wir keine Lösung finden! Wer gefunden hat, ist sofort verdächtig: Er könnte ja wissen! Und das geht gar nicht. Es wäre das Ende des Suchens. Und was ist dann? Nach dem Suchen? Deswegen lieber vorsichtshalber immer ein paar Mäuerchen stehen lassen, selbst wenn es nur die Ruine eines Mäuerchens ist.

 

Ist Wissen verboten? Sind wir so unfähig, daß wir nicht ‘wissen’ dürfen? Weil wir verdächtig sind, dieses Wissen zu mißbrauchen oder falsch anzuwenden? Weil man uns unterstellt, daß wir so dumm sind, daß wir als Wissende wieder zu Steinen erstarren, weil wir nicht mehr für neue Erfahrungen offen sind? Oder ist es die Angst vor Neid, Mißgunst, Konkurrenz oder falsche Bescheidenheit, die uns in jenem Stillstand verharren läßt, in dem wir uns als Suchende darstellen, die engagiert suchen, immer und überall. Die Offenheit solch Suchender mag entwaffnend sein. Doch sie ist falsch. Denn welchen Sinn macht das Suchen, wenn das Finden nicht erlaubt ist und es keinem zugestanden wird, daß er gefunden haben könnte. Aber auch diese Frage wird nicht bis zum Ende untersucht, ist es doch einfacher, sich in kollektiver Selbstermahnung zum Nichtwissen und Dauersuchen zu ermahnen. Nichtwissen ist nicht riskant. Es ist leicht, sich als Nichtwissender darzustellen in einer Welt von Nichtwissenden.

Ein Risiko dagegen stellt das Wissen dar, denn einer, der etwas weiß und obendrein davon spricht, löst sich aus der Anonymität dieser Masse heraus. Man erkennt plötzlich, wer das ist. Man wird ihn mögen und man wird ihn auch anfeinden. Er wird zur Projektionsfläche und damit zu einer Gefahr, aber auch einer Chance für sich selbst und für die anderen. Je nachdem, wie sehr er weiterhin Wasser an sein Herz fließen läßt, trotz seines Wissens ein Suchender bleibt, oder aber beginnt, klammheimlich neue Mäuerchen zu bauen, weil er ja jetzt ein Wissender ist.

Interessant wird das Ganze, wenn es plötzlich ganz viele Wissende gibt, die trotzdem suchen.  Wäre das nicht eine wunderbare Welt? Eine Welt der Wissenden, die weiter suchen, aber sich trauen, von ihrem Wissen zu erzählen und dieses an andere weiterzugeben. Plötzlich lebten wir in einer geöffneten Welt. Einer solchen, in der wir die Herzen der anderen schlagen hören. In der wir geben und annehmen können.

 

Sicherlich kann auch für einen Wissenden die Suche nicht aufhören, weil das Leben ein Wasser ist, das immer wieder anders fließt. Das ist aber doch sowieso klar. Zum Wissen gehört das Suchen, genauso wie zum Suchen aber das Finden gehört.

Das Leben besteht nicht nur aus Steinen. Auch das Wissen ist kein Stein und es darf keiner sein. Man muß vor dem Wissen keine Angst haben. Das Wasser gräbt seine Furchen ohnehin in alles. Es bewegt Steine sogar vom Platz. Doch wer Mäuerchen gebaut hat, bemerkt das lange nicht, weil er nur auf seine Mäuerchen schaut und die Gesichtszüge, die sie gebildet haben. Er fühlt nichts, sondern redet nur über seine Mäuerchen.

 

So bleiben solche Menschensteine zum Steinerweichen hart. Selbst wenn es die Steine der Weisen sind. Sie werden hart bleiben, und banal, solange, bis endlich das Lebenswasser durch ihre Mäuerchen hindurch auf ihre Herzen tröpfelt.

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