Internationale Schauspielschule München, 15.30h. Generalprobe zu den Abschlussprüfungen. Clara Johannes steht auf der Bühne. Wie eine sternhagelvolle, verlorene Seele spielt sie die Martha aus „Wer hat Angst vor Virginia Woolfe!“ von Edward Albee. Ich hab diese Frauenrolle damals auch gespielt. Ich stand auf die Sprache von Albee in diesem Stück, diese hingerotzten Sätze. Ja, ich wollte mal was werden. Mein Traum war, Schauspieler zu werden. Inspiriert von den Erzählungen des Ehemannes meiner Klavierlehrerin, einem Opernsänger von massigem Körperbau, sprang ich bereits als 12-Jähriger begeistert durch die Wälder des Chiemgaus in der Nähe des Ferienhauses meiner Eltern. „Du mußt auf die Bretter, die die Welt bedeuten!“ hatte mir der Bassbariton mit dröhnender Stimme eingebläut, wenn ich sechsjähriger Wicht vor ihm in seiner Villa stand, neben dem schwarzen Flügel, aus dessen Innerem unsere Stimmen seltsam widerhallten und dessen geöffnete Klappe mich überragte, wie das Maul einer riesigen Auster. Manchmal gefror ich, wenn ich später mit zwanzig im Wald stand und die Äste der Bäume im Wind knisterten, wie ein universaler Klangkörper. In dieser lauten Einsamkeit zwischen den riesigen Tannen und Fichten mitten im Sumpfgebiet brüllte ich mir die Texte dramatischer Monologe aus der Seele. Niemand wusste von meinem heimlichen Hobby. „In unserer Ehe sind mir Augenscheibenwischer gewachsen, George!“ lallt Clara Johannes alias Martha jetzt und weckt mich damit aus meinen Gedanken zurück zu sich selbst auf die Bühne. Es ging schnell, dass ich keine Lust mehr gehabt hatte, auf dieses Theater. Nach der Schauspielschule bestand ein Großteil meines neuen Berufes daraus, Fotos zu machen und Freunde zu fragen, ob sie – wenn sie Regisseur wären – mich engagieren würden, wenn sie so ein Foto sehen würden. Ab und zu hatte ich in Filmen gespielt und in Theatern. Ich musste so spielen, wie man mich inszeniert hatte. Nur ein klein wenig konnte ich tun, was ich wollte, und was ich auch heute noch versuche, jetzt, wo ich fünfzig bin, indem ich blogge – meine Träume zu verwirklichen. Ich bin immer ausgestiegen, wenn mir andere reingeredet haben. Ich dachte, es ist meine Freiheit, aufzuhören mit etwas und etwas anderes zu tun, wann immer ich will. Ich habe es oft gemacht. Es war jedes Mal ein Riesenakt und er hatte immer Konsequenzen, die ich vorher nicht gesehen habe. In Ägypten versuchen das jetzt Millionen auf einmal. Ich glaube, anders geht es nicht, als es einfach zu tun. Ja, im Sumpf im Chiemgau, ja, dort war es schön, zu spielen. Dort schrie ich, es war mir egal, ob ich in den tannennadelübersäten Sümpfen mit den Beinen bis zum Knie im Schlamm versank, oder ob ich meine Knöchel im dornigen Distelgestrüpp verkratzte. Der Sumpfwald war meine Bühne, die Tannenbäume das Publikum. Und wenn der Wind sie zum Rauschen und die Äste zum Knacksen brachte, stellte ich mir frenetisch tosenden Applaus vor. Ich verbeugte mich und war verzückt, denn ich war in meinem Element. Erschöpft schmiss ich mich auf den Boden. Mir war es egal, wenn das ein Ameisenhaufen war und ich es sofort auf mir krabbeln spürte, denn ich sah Schmetterlinge davonfliegen und beobachtete tief schnaufend die Wipfel, die wie Pinsel ihre Geschichten in den Himmel malten. Hier lernte ich, bei Tag zu träumen. Ich malte mir aus, wie mein Leben einmal sein würde. Ich glaubte den Himmelsmalereien in dieser bergigen Gegend. Die weißen, vorbeirasenden Wolkenfetzen versprachen mir: Das Leben ist atemberaubend und groß! In den Wäldern spürte ich zum ersten Mal dieses Stück Freiheit in mir kribbeln. Lust auf die Zukunft. Das war das Eigentliche, was mich hierher zog. Jetzt geht das Licht aus. Die Bühne ist schwarz. Clara Johannes ist weg. In mir zeichnen sich nur noch die Umrisse ab, die das Licht auf meine Netzhaut gebrannt hat, so, wie ich gerade an mein Leben zurückdachte, jetzt, fast dreißig Jahre später. Die Zukunft kannte ich nicht. Nein, ich kenne sie immer noch nicht. Doch die Vergangenheit kenne ich. Also frage ich mich nochmal: Bin ich was geworden? Ehrlich gesagt weiß ich es nicht, denn ich werde ja immer noch. Nur eines ist mir klar: Die Gegenwart muss ich noch lernen. Ich marschiere raus aus dem Bühnenraum. In einem Nebenraum gibt der Schauspiellehrer Bernd Dechamps letzte Anweisungen für die Aufführung am Abend. Ich fand sie alle ziemlich gut, Jessica Johnson, Martina Schmidt, Caroline Kupczyk, Mathias Kupczyk, Manuel Frederick, Fabian Strodl, Patricia Döring und Katherine Brand. “Toll, was Ihr da macht!” – smse ich an Bernd. Sie haben ihr erstes Ziel erreicht. Welches haben sie jetzt?
Es ist alles leer, es wird dunkel, im Autoradio erzählen sie schon wieder von Ägypten. Ich denke an Srebreniza. Einen Tag, bevor das Gemetzel an tausenden von Bosniern losging, war es bei uns hier bereits in der Zeitung angekündigt. Und ich frage mich: Ist die Zukunft nicht doch ein wenig mehr kontrollierbar, als es uns erscheint? Wozu sonst haben wir all diese Strukturen? Nur wegen der Parkzettel? Also weiterträumen oder was?