Zeitmüll

Er ist wieder vorbei, der Wochenend–Zwischenraum. Kaum ersehnt, kaum dagewesen, vielleicht einmal kurz etwas gemacht, was man wirklich wollte. Wenn man ehrlich ist, vermutlich nur ein bißchen was von dem. Dann ist er schon wieder weg, dieser Zwischenraum, diese ersehnte, freie Zeit. Sind Wochenenden nicht wie Wimpernschläge? Und: Ist es nicht mit dem gesamten Leben so, rauscht es doch durch, wie ein Wasserfall. Manchmal wirkt es fast so, als könnten wir mit der Geschwindigkeit unseres Lebens gar nicht mitkommen. Dann geben wir Gas, weil wir Angst haben, daß es uns davonläuft. Noch ein  Projekt. Noch einen Termin reindrücken. Wir drücken auf die Zeit-Tube in beständiger Hoffnung, daß aus ihr unendliche Massen an Zeit quellen. Immer mehr Zeit. Wie aus einer nie leer werdenden Lebens-Tube. Ungenügsam, wie wir sind, beginnen wir in diesem Zeitstreß unliebsame Zwischenräume unserer Lebenszeit sogar zu überspringen. Ist Dir schon einmal aufgefallen, wieviel Zeit Du bekämpfst? Wie Sie versuchen, sie zu vermeiden, wegzudrücken, und zu überspringen, indem sie sie mit anderen Tätigkeiten zukompensieren:

 

Warten auf das Meeting. Die sich hinziehende Zeit, bis der Chef oder der Geschäftspartner zurückruft. Der Arbeitstag überhaupt. Bis endlich das Treffen mit dem ersehnten Partner stattfindet. Mit dem Taxi zum Flughafen, Schlangestehen beim Einchecken oder an der Supermarktkasse. Zwischendurch bleibt der Atem stockt sogar der Atem wegen dem Unmut mit diesen Zeiten. Wir holen plötzlich wieder tief Luft und wundern uns, daß wir außer Atem  sind, geben unserer Umwelt die Schuld dafür. Wir brüllen im Auto herum, beschimpfen einen, der von hinten überholen will und lassen den dann absichtlich nicht vorbei. Der Weg zum Sportstudio oder in das Yoga-Retreat ist zu lange und zu unbequem. Yoga oder Fitneß wäre zwar wunderbar. Aber nicht der Weg dorthin! Und schon gar nicht der Stau während des Weges dorthin. Und die vielen Idioten, denen man begegnet… Und all diese vielen Dinge, die man will und einfach nicht bekommt. Den richtigen Mann, die richtige Frau. Nicht genug Geld. Den falschen Körper. Die falsche Arbeit, die falsche Wohnung. Der Lärm draussen. Die Intrige gegen mich. Das falsche Leben anscheinend.

 

So überspringen wir diese Zeiten einfach. Ohne es zu bemerken tun wir nicht mehr das, was wir eigentlich wollen. Wir bilden uns ein, daß scheinbar unüberbrückbare Hindernisse zwischen uns und dem Leben stehen, das wir wirklich führen wollen. Wir nehmen keinesfalls die Möglichkeit an, daß der Schatz unseres Lebens etwas ganz in unserer Nähe liegen könnte. Daß etwas ganz Tolles möglicherweise in direkter Griffweite von uns erreichbar ist. Oder sogar in uns selbst!?

Das wäre in dem Wertedenken, das sich in unserer Gesellschaft mittlerweile ausgeprägt hat,  eine geradezu anmassende Erwartung: „Ich greife mal ganz kurz neben mich und schon habe ich das Paradies zwischen den Fingern!?“ Nein, auf keinen Fall. Alles, was gut ist, kann nur mit übermenschlicher Leistung erreicht werden, wenn überhaupt. Und die Prämissen für diese zweifelhafte Leistung kennen wir ja. Und die Folgen auch: Zerstörung. Dennoch orientiert sich unsere gesamte Gesellschaft genau nach diesem Prinzip. Das Perverse dabei ist: Obwohl es alle eigentlich wissen, tun sie es trotzdem.

 

Wir verschieben alles, was uns etwas bedeutet, in die Zukunft. Zum nächsten Wochenende, in den Urlaub oder bis wir endlich so viel Geld haben, wie wir es uns vorstellen, daß wir es zum Glücklich sein benötigen. Wir streichen ganze Zeitblöcke aus unserem Leben, indem wir sie mit Kompensationstätigkeiten überdecken: Rauchen. Trinken. Streiten. Sorgen machen über alles und jedes. Endlos über Politik sprechen. Noch ein neues Projekt machen. Und dann gleich nochmal eines. Und noch eines. Wenn kein Stress existiert, ihn erzeugen, scheinbaren  Stress, den es gar nicht gibt. Wir flüchten uns in Imagewelten, die 1001-Bildschirmwelt, Alkohol, Handytelefonieren usw.

Wer so lebt, verbringt nicht nur sein Leben in einem fortwährenden Kampf. Sein Tag enthält obendrein mindestens 1 ½ bis drei Stunden unerwünschte Lebenszeit. Diese unbeliebten ‚Time-Gaps‘ bzw. ‚Zeit-Zwischenräume‘ existieren in großer Vielfalt. Diese von uns zum Zeitmüll degradierten Lebenszeiten verringern unsere Lebensqualität drastisch. Da es unsere eigene Lebenszeit ist, kannibalisieren wir uns mit diesem Verhalten selbst. Und sie erhöhen unser Stressgefühl. Sie verringern unsere Fähigkeit zur Empathie und zum freudvollen Zusammenleben und reduzieren die Effektivität in der Arbeit. In der Summe tragen sie zur Entwicklung negativer Symptome in Privatleben und Beruf bei, wie Depression, Beziehungsunfähigkeit, Sucht und Burnout.

Zusammengerechnet besteht ein Jahr demnach aus ca. 1055 unliebsamen Stunden bzw. 45 Tagen, die wir nicht haben wollen. Eineinhalb Monate! Auf 40 Jahre unseres Lebens hochgerechnet sind das 1825 Stunden. Das heißt, daß das Leben eines Menschen in seinem Leben als Erwachsener in den 40 Jahren zwischen seinem 20sten und 60sten Lebensjahr fünf Jahre (!) enthält, die er für überflüssig, minderwertig oder unangenehm hält, und die er deswegen zu vermeiden, oder sonstwie zu überbrücken oder nicht wahrzunehmen versucht.

 

Dabei ist es absolut unmöglich, Lebenszeit zu vermeiden. Sie findet statt, ob man will oder nicht will.

 

Das Überspringen solch unliebsamer Zeit-Zwischenräume ist in unserer an äußeren Werten orientierten Wettbewerbsgesellschaft bei Millionen Menschen zu einer zwanghaften Verhaltensweise geworden. Fast jeder Mensch leidet darunter.

 

Wir können uns vor solche Zeiten nicht drücken! Wenn wir wohin wollen, müssen wir den Weg dorthin zurücklegen. Es ist dann an uns, auch diese Zeit zu genießen. Wenn wir etwas erreichen wollen, so gehört auch der Weg dorthin zur Lebenszeit und damit zu einer herausfordernden Aufgabe, diese Zeit so schön wie möglich zu erleben. Doch da dies viele Menschen nicht tun, wird für sie das gesamte Leben zu einem Zwischenraum. Sie versäumen praktisch sich selbst.

 

Im schlimmsten Fall bemerken sie gar nicht, daß sie ihr Leben als gigantischen Zwischenraum gelebt haben, weil sie plötzlich tot sind. Wenn sie Glück haben, bemerken sie vielleicht mit 60, daß sie 20 Jahre lang an sich selbst vorbeigelebt haben. Dann haben sie vielleicht noch ein paar Tage oder Jahre eine Chance, das Ruder herumzudrehen. Doch wer bekommt das schon hin, wer hat so spät noch die Energie und den Mut dazu? Mit 50 oder 60? Um Verhaltensmuster, Gewohnheiten, Beziehungen und Rituale aufzulösen, die sich zwanzig Jahre lang in das eigene Leben eingestanzt haben, braucht es Mut, Radikalität, den Willen, die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen und vor allen Dingen ein Ziel.

Haben wir ein solches Ziel? Hat unsere Gesellschaft eines? Haben die Firmen Ziele, die über die Rendite hinausgehen? Und im nächsten Jahr eine noch größere Rendite? Und dann noch mehr? Nein.

 

Der Tod kann jeden Moment geschehen. Es ist daher müssig, über eine etwaige Länge des Lebens nachzudenken und zu erwarten, daß irgendwann einmal das große Wunder geschieht. Es ist Unsinn, etwas, was man wirklich gerne tun will, auf die Zukunft zu verschieben. Zeitlängen sind für die Qualität eines Lebens völlig irrelevant. Das Leben könnte schließlich einerseits sofort beendet sein und andererseits 120 Jahre lang dauern. Alleine durch diese für jeden unumgängliche Absurdität eröffnet sich die Notwendigkeit, sein Leben anders auszurichten, als immer nur nach Erfolg, Gewinnzielen und späteren Traumzeiten zu streben, oder umgekehrt, so, wie es Viele falsch verstehen: Genau das gar nicht mehr zu tun und nur noch alle Viere von sich zu strecken nach dem Motto, nach mir die Sintflut.

 

Eine Möglichkeit wäre es beispielsweise, all diese unliebsamen kleinen und großen ‚Müllzeiten‘ als unsere eigene Lebenszeit, die uns gegeben worden ist, anzunehmen und wertzuschätzen. Darin läge eine große Herausforderung für einen jeden. Denn diese Art von Wertschätzung der eigenen Lebenszeit funktioniert nur über das Herz. Nur leider ist dieses Herz, das immer schlägt, ob wir es wollen, oder nicht, und das aber auch einfach plötzlich aufhören kann, ob wir es wollen, oder nicht, dieses Herz ist für die meisten Menschen leider ein absolutes Neuland. Es besteht für sie nur aus Worten, welche ihnen die Illusion geben, daß sie alles darüber wissen. Doch Herzenswissen hat keine Worte. Es kennt keine unbeliebten Zeiträume. Das Herz ist total. Es braucht keinen Kampf.

 

Herzenswissen wird aber auf keiner Schule, in keiner Universität und in keinem Effektivitätsseminar gelehrt. Es wird in den meisten Organisationstrainings, wie man in Firmen Managementabläufe effektiver gestalten kann, ausgeklammert. In unserer politischen und sogenannten freiheitlichen, demokratischen Kultur ist für Herz nur wenig Platz. Der Weg des Herzens zählt aber zu den größten Chancen unserer Zeit und der Verfahrenheit, in der wir uns in unserer Gesellschaft befinden. Er ist nicht nur eine Chance. Er ist eine Notwendigkeit.

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