Herzschlag

Das Wort ‚Herz‘ hat mich vor wenigen Tagen sehr gereizt, nämlich, als die Nachricht vom Tode Steve Jobs um die Welt ging und plötzlich fast ein jeder dessen ‚Herzenssprüche‘ postete. „Man solle nach dem Herzen leben“ etc. – so in etwa lauteten die Jobs-Zitate, die in wellige Linien gerahmt, oder in mausgraue Fonds gestellt herüber kamen wie die Sprüche eines weisen Zenmeisters. Sie signalisierten das Kernbedürfnis unserer Zeit.

 

Es gibt so viele Menschen, die Zen-Bücher unter dem Arm tragen, in welchen Herz-Sprüche stehen und in denen Worte wie „Liebe“, „Stille“ und „Loslassen“ vorkommen. Unter ihnen gibt es solche, die sich tatsächlich in eine tiefe Suche begeben. Und es gibt andere, die in diesen Büchern – ständig von einem hyperkritischen und erhabenen Verstand begleitet – herumstöbern, sich die ihnen passenden Zitate herausstreichen, und dann von oben herab über ihre Umwelt herfallen. Diese ‚Scheinsucher‘ nähren mit ihrem pseudointellektuell-modischen Zitierwahn ihre eigene Läuterungsillusion und riechen gar nicht, daß sie in Wirklichkeit nichts anderes, als sich selbst dabei beweihräuchern.

 

Der „Weg des Herzens“ gestattet keine Ausbeutung von Menschen, verbietet das Beschäftigen von Zwangsarbeitern. Er verbietet es überhaupt und generell, absichtlich oder fahrlässig zu verletzen oder zu schädigen. Und vor allen Dingen sollte der „Weg des Herzens“ das automatische Bedürfnis mit sich bringen, für andere Menschen und diese Welt etwas zu tun, wenn man bereits übermässig mit Gewinnen vollgeschüttet ist. Das tun aber solche Leute nicht. Sie “Denken” dieses Tun freilich, mit großer Empathie vielleicht, doch eine wirkliche, konsequente Aktivität findet dahinter nicht statt. Sie mimen die Weisen und Geläuterten und umhüllen sich so mit Hilfe ihrer Bücher, Philosophennamen und Zitate wie mit einer unsichtbaren Mauer der Unangreifbarkeit. Diese von unserem Zusammenleben abgekoppelte Stellung zu erreichen ist ihr einziger Zweck. Sie ist ein Ziel ihres Egos und nicht ihres Herzens. Was kann man schon gegen so einen Menschen sagen, wirkt er doch ungeheuer belesen, intellektuell brillant und vorbildhaft.

 

Das ‚Herz‘ ist heute zu einem geflügelten Wort geworden und vermutlich zu einem der inflationiertesten dazu. „Glaubs mir, ich meine das ganz vom Herzen“ – beteuerte mir vor wenigen Tagen ein Freund abschließend, während ich mich gegen den Ansatz einer Abschiedsumarmung wehrte, nachdem er mir mit einer Tirade zynischer Verurteilung, Beurteilung, Bewertung und vernichtender Kritik seine Meinung hingeschmettert hatte, wie wenig weise ich in den Jahrzehnten meines Lebens geworden sei.

 

Das Herz bewertet aber nicht. Es urteilt nicht, es verurteilt nicht. Das Herz schlägt. Egal was ist, es schlägt.

 

Nach dem Atem ist das Herz die für unser Bewusstsein auffälligste, ununterbrochene Lebensaktivität. Es schlägt und schlägt und schlägt, so wie der Atem einfach fliegt, wie er will.

 

Es macht viel Sinn, dieses Treiben einmal zu beobachten. Vieles dabei wird irrelevant. Diese Art von Vergegenwärtigung nennt man mit einem anderen Wort auch “Meditation”. Und der Grund, warum viele gar nicht erst zu meditieren anfangen, andere schnell wieder aufhören, oder wieder andere meinen, sie kennen das doch schon, ist die Angst vor diesem irrelevant werden der Dinge, mit denen sie sich Zeit ihres Lebens identifiziert haben – und das können sogar philosophische Sätze sein.

 

Ich glaube, es hat noch kein Mensch geschafft, aus eigenem Willen zum Atmen aufzuhören, oder das Herz zum Stillstand zu bringen. Deswegen sind wir in letzter Konsequenz immer der Herrschaft des Herzens unterworfen, was auch immer wir uns auf uns selbst einbilden, wie intelligent wir sind, wie sehr wir Recht haben, wie sehr wir irgendjemanden kritisieren oder verurteilen, wie sehr wir alles bereits wissen und im Griff haben. Nicht der über das Herz redende, alleswissende Verstand, sondern das Herz selbst ist ein Synonym für das Wunder unseres Lebens, das einfach weitergeht, so, wie es will, und dabei können wir mitmachen, mitgestalten, oder auch nicht. Das Leben mit diesem schlagenden Herzen geht weiter, auch, wenn wir uns ihm verweigern.

 

Ich habe heute mit einer Putzfrau gesprochen. Sie erzählte mir, daß in ihrem Heimatland Tunesien bereits kleinste Mahlzeiten 50 Dinare kosten, das sind ca. 30 Euro. Dafür kann sich eine tunesische Hausfrau für vier Personen gerade einmal ein paar Tomaten, ein Brot, Petersilie kaufen. Keine Milch, keinen Käse, kein Fleisch. In Tunesien, dem unser Außenminister zu einem publicitywirksamen Zeitpunkt Hilfen versaprochen hat, hungern die Menschen. Weiß das jemand? – Beides, die Tatsache und das Nichtwissen, also, daß das Thema zu unpopulär ist, als daß man es berichten sollte, beides sind herzlose Zustände.

Als ich im Sommer in der Türkei und in Griechenland war, ist mir aufgefallen, daß dort die Preise weitreichend um das bis zu Fünffache gestiegen sind. Freunde in Athen haben mir erzählt, daß Menschen zum Studieren aufhören, weil sie es sich nicht mehr leisten können – Diese Fakten und die Tatsache, wie zynisch wir über das Griechenland – Debakel debattieren, sind herzlose Zustände.

Vorgestern wollte ich in München am Isartorplatz in ein Taxi einsteigen. Die Taxifahrer diskutierten über einen ‚pennerartigen Körper‘, so sprachen sie, der ein paar Meter weiter im Rasen lag. Es war eisig kalt, es nieselte, und nachdem ich herausbekommen hatte, daß sich – trotz dem Gerede – noch keiner um den Mann gekümmert hatte, weil es ja ‚nur‘ ein Penner wäre, um die man sich anscheinend nicht kümmern muß, weil sie ja ‚nur‘ Penner sind, ging ich hin. Es war kein Penner. Es drehte sich mir ein Mann aus dem Dreck nach oben zu, der mir mit klarer Stimme erzählte, daß er ein Kroate sei, der seit Jahrzehnten in München lebt. Er hätte vorletzte Woche bei einer Computerfirma seinen Job verloren, weil er zu lange Grippe gehabt hätte. Jetzt konnte er zum Monatswechsel die Miete nicht mehr zahlen und deswegen haben sie alle außer ein Zimmer in seiner Wohnung an Oktoberfesttouristen untervermietet. In dem übrigen Zimmer lebt seine Familie, eine Frau und drei Kinder. Und er selbst schläft auf der Parkbank. Außer diesem Stück nasskalten Rasen ist ihm kein Platz mehr in dieser Welt geblieben, in welcher Abertausende jeden Tag Unsummen für teure Produkte ausgeben. Ich hatte nach meinem Gespräch mit ihm das Gefühl, daß das Herz dieses Menschen zu schlagen aufgehört hatte, gleichwohl es anatomisch sicherlich noch lebendig war. – Ist das nicht ein herzloser Zustand?

 

Wie wir als Menschen in dieser Welt untereinander und miteinander umgehen, ist herzlos. Es ist das Symptom eines kollektiven Herzstillstandes.

 

Nein. Die Sprücheklopfer mit ihren Herzsprüchen sollen mir ruhig in die Quere kommen und ich werde sie meinen Herzschlag mit seiner ganzen Schlagkraft spüren lassen. Das ‚Herz‘ ist kein Wort. Es hat keine sanft dreinblickenden, weichphilosophischen Äuglein. Es lächelt nicht sympathieheischend in die Runde hinein. Viele denken, während sie diese Äuglein verdrehen, das Herz sei etwas ganz Zartes, etwas so wahnsinnig Sensibles, etwas so Betörendes, daß man es anderen vorspielen kann und alle darauf hereinfallen. Diese Einbildung entlarvt sich spätestens dann als falsch, wenn der Kopf nicht mehr weiter weiß und man eine Entscheidung aus dem Herzen heraus fällen muß. Viele Menschen ziehen es dann vor, in den Zustand einer Dauerlähmung zu verfallen, anstatt endlich zu handeln.

 

Herz-Entscheidungen sind von substantieller Wirklichkeit und Radikalität. Sie sind wie Herzschläge eben: Sie donnern, sie pumpen, sie bewegen das Leben nach vorne. Sie verändern schlagartig alles. Aus Angst davor flüchten sich viele Menschen in ihren Kopf, begnügen sich mit dem Zitieren weiser Sprüche und negieren weiterhin unbemerkt ihre wirkliche Stimme, die in ihrer Brust ununterbrochen das Richtige sagt. Das Herz ist eine Aktivität. Es ist automatisch aktiv. Wenn wir uns diesem Geschehen entziehen, geben wir das Leben auf.

 

Es ist höchste Zeit, endlich wieder nach dem Herzen zu leben. Herzentscheidungen zu fällen. Herz-Ziele zu setzen. Beispielsweise die Zahl der Menschen zu reduzieren, denen es schlecht geht. Das geht nicht mit politischer Akrobatik und Zauberei, wie z.B. mit der Schaffung Hartz IV – artiger Statistik-Lügen, sondern das geht nur wirklich, echt. Es kann doch nicht sein, daß mitten unter uns in Europa Menschen leben, die sich das Essen nicht mehr leisten können und wir währenddessen mit elektronischen Geräten schmusen, an denen die blutigen Fingerabdrücke chinesischer oder nordkoreanischer Zwangsarbeiter kleben. Es kann auch nicht sein, daß Mobbing und Burnout zu den grassierendsten Leiden gehören, und daß kein anderes Rezept dagegen entwickelt wird, als daß die Krankenkasse zahlt. Und überhaupt muß man für diese riesengroße Aufgabe ja auch einmal erst bei sich selbst anfangen. Dieser Berg alleine ist bereits beängstigend groß.

 

Das Herz zu leben ist nicht schwer. Es bedarf aber der Konsequenz. Und die braucht mehr, als nur Gelabere. Deswegen finde ich beispielsweise die Facebook-Gruppe „Heart-Book“ wunderbar. Eine schöne Idee. Ein erster Schritt. Ein Herzschlag, der weiterführt.

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