Symptome einer Ohnmacht

Vom Aussterben bedrohte Spezies? "Die Intellektuellen haben die Macht der Kritik" (Umberto Eco). Doch wo sind sie? Wer druckt noch ihre Worte? Und wer ließt das dann?

Vom Aussterben bedrohte Spezies? "Die Intellektuellen haben die Macht der Kritik" (Umberto Eco). Doch wo sind sie? Wer druckt noch ihre Worte? Und wer ließt das dann?

 

oder: die Freiheit der Worte und des Schweigens

 

 

In so vielen Regionen bäumt sich etwas auf. Auch wenn ich mit Freunden und Bekannten spreche, ist dieses Gefühl von Protest immer wieder spürbar. Dann kollabiert es aber gleich wieder: Denn eigentlich geht es uns doch gut. Doch dieses Gutgehen hat einen schalen Beigeschmack.

 

Als wir Kinder früher zum Abendbrot am Esstisch meiner Eltern saßen, brach regelmässig die Krise aus. Wir waren fünf. Wenn einer redete, quatschten schnell vier andere dazwischen. Meine Mutter versuchte uns, zur Ordnung zu rufen. Das machte alles nur noch schlimmer. Der Streit eskalierte, wenn einer zu viel von der Leberwurst nahm, so daß dem nächsten nicht mehr gleich viel blieb. Im Nu war ein Tohuwabohu im Gange, das von meinem Vater regelte, indem er uns beim Essen ein Redeverbot auferlegte. Er zitierte dabei gerne weise Sprüche wie „Der Klügere gibt nach“ oder „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Wenn ich dann meine Lippen zusammenkniff, hörte ich es ganz laut in mir Denken. Das waren meine ersten Schweigeerfahrungen.

 

„Schweigen“ ist aktiv. Es bezeichnet in meinem Verständnis den selbstbestimmten Vorgang, das Reden zu unterlassen, obwohl man etwas zu sagen hätte. Wenn jemand aber sowieso nichts zu sagen hat, so ist er einfach still. Oder ruhig. Er sagt halt nichts. Das ist passiv und hat nicht unbedingt etwas mit der Aktivität des Schweigens zu tun. Aber wenn einer etwas zu sagen hätte, beispielsweise auf eine Frage hin, und trotzdem nichts sagt, dann schweigt er. Schweigen beruht auf dem eigenen Beschluss, das Reden zu unterlassen. Genauso entspringt der Impuls zu sprechen eigentlich dem Bedürfnis, sich auszudrücken, sich mit anderen auszutauschen, zu verbinden oder sich von ihnen zu differenzieren. Beides kann einem eigenen Bedürfnis entspringen,  einer Einflussnahme von aussen, oder der Angst vor Konsequenzen.

In den vielen politischen Diktaturen ist dies beispielsweise der Fall. In Sekten, ja und auch in Firmen und Familien. Wenngleich das Reden offiziell scheinbar erlaubt ist, sagen die Menschen nichts mehr. In Italien wird das Schweigen oft sogar im Rahmen eines Gelöbnisses („Omerta“) praktiziert. Auch durch das eigene Handeln verursacht man immer wieder Zustände, in denen man sich zum Schweigen gezwungen fühlt und es oft tut, weil man nicht reden will, wie etwa nach einem Seitensprung oder einem Fehlverhalten.


Die Möglichkeit, sich selbst für oder gegen das Schweigen zu entschließen, kann einem letztlich niemand nehmen. Sie existiert immer. Doch in welcher Dimension sie bewusst ausgeübt wird, ist ein Gradmesser unserer persönlichen Freiheit. Die Freiheit der Worte können einem selbst die bösartigsten Doktrinen nicht nehmen: In mir drinnen bin ich immer frei. Was ich in mir denke, ist mir selbst vollkommen frei überlassen. Dieser wunderbaren und nur schwer verwundbaren Eigenschaft haben die Menschen im Laufe der Zeit unentwegt Manipulationsversuche entgegengesetzt, die allesamt mit den Worten zu tun haben.

Beispielsweise die Folter: Sie ist nichts anderes, als ein Versuch, das von Worten geprägte, freie Denken eines Menschen durch unerträgliche Schmerzen zu beeinflussen. Meistens basiert die Motivation dafür auf radikalen politischen oder religiösen Glaubensystemen, die allesamt fast ausschließlich aus Worten bestehen.

Ein anderes Manipulationsmittel sind die Medien und die Werbung. Ihre Werkzeuge sind die Worte und Bilder: Ihre ständige Entfaltung hat eine ununterbrochene Beeinflussung unseres Denkens zur Folge. Einer der Gründe, warum wir diese Entwicklung fast zügellos zulassen, ist u.a. unser Demokratie- und Freiheitsverständnis.


Einerseits ist es von entscheidender Bedeutung, diese Freiheit der medialen Worte auch so zu erhalten. Doch andererseits fehlt sowohl ihren Betreibern, als auch ihren Konsumenten ein Verantwortungsbewusstsein für die Reichweite und die Konsequenzen dieser Freiheit. Sie reichen weit hinter die Kulisse der Worte und Inhalte, die in ununterbrochenem Mörserfeuer vermittelt werden. Es fehlt ein tiefgreifendes Bewusstsein darüber, warum all diese Wortinhalte überhaupt hergestellt und verbreitet werden und über die infektiöse Wirkungsweise von Wortinhalten auf uns Menschen. Die heute fast nur auf Worten basierende Sinnesbeeinflussung vermittelt eine beispielsweise die Illusion, als würde es ständig neue Informationen geben, die allesamt lebenswichtig sind, und dies selbst nach Tagen, an welchen einfach nichts Bedeutendes geschehen ist. Daher ist nie Ruhe. Die Wahrnehmung unseres individuellen Lebens wird pausenlos mit Neuigkeitshüllen umwickelt. Es ist fast so, als sollte da irgendetwas isoliert werden, was von uns nach aussen dringen oder von uns wahrgenommen werden könnte. Der Effekt ist verheerend: Unsere freie und selbstbestimmte, geistige Beweglichkeit wird paralysiert und damit unsere Fähigkeit, die Freiheit des Schweigens oder Redens ungehemmt und unbeeinflusst ausüben zu können. Wir bewegen uns nur noch innerhalb der von Worten geschaffenen Image-Umhüllungen.

 

Wenn ich also immer wieder kritisch über die „Worte“ spreche, appelliere ich vor allen Dingen an unser Bewusstsein. Uns muss die Wirkungsweisde klarer werden, was es bedeutet, die Fähigkeit, verbal zu kommunizieren. Über die Fähigkeit, frei reden und denken, sowie frei und unbeeinflusst schweigen zu können, ist ein unschätzbarer Wert. Er braucht Pflege. Sonst verlieren wir die Möglichkeit, zu wählen: Aus eigenen Stücken heraus diesen winzig kleinen Beschluss fassen zu können, nichts oder schon etwas zu sagen. Ich halte die Sprache für einen d e r  Gradmesser unserer Freiheit. Dazu gehört aber auch die Dimension meiner Fähigkeit, schweigen zu können. Wann immer ich will, je nachdem, wieviel Bedürfnis danach habe. Das ist für mich einer der wichtigsten Indikatoren für meine private und intime Lebensqualität.

 

Sicherlich mag in einer ersten, vielleicht oberflächlichen Reflexion der Eindruck bestehen, daß wir das ohnehin können: Jederzeit schweigen. Natürlich, es ist möglich, plötzlich still zu sein oder sofort etwas zu sagen. Doch woher kommt es, daß wir fast zu 90 Prozent zum Reden neigen und uns zu Hause sofort vor den Computer setzen, um zu chatten? (das ist das Ergebnis einer Harward – Untersuchung).

 

In der so entstehenden Inflation der Worte und des ununterbrochenen Redens verlieren die Worte ihre tiefere Bedeutung. Aller Worte, jener, die wir sprechen und solcher, die wir denken. Sie wird nicht mehr erkannt. Die Worte sind zu flüchtig geworden. Um hinter ein Wort zu sinnieren, reicht die Zeit nicht aus. Ausserdem können wir uns wegen der schieren Wortfülle kaum mehr um ihre Wirkungsweise kümmern: Die Worte lösenrasend schnell automatische Kettenreaktionen aus. In uns selbst oder in anderen Menschen. Eine Differenzierung zwischen der Sinnigkeit oder Unsinnigkeit der Worte, oder auch ihrer Überflüssigkeit, findet immer mehr noch nach klischeehaft statt. Wenn überhaupt.


Ich selbst erfahre das, wenn ich mich beispielsweise auf längere Facebooksessions einlasse. Ich verliere dabei ungeheuer viel Energie für einen sorgsamen Umgang mit den Worten. Sie fehlt mir dann beim Schreiben an meinem Buch oder bei Texten, die mir wirklich wichtig sind. Das fühlt sich fast so an, als würde sich die Sprache durch ihre inflationäre und unbewusste Ausübung selbst verausgaben und verschwenden. Ich erfahre das so, als hätte ich nur ein bestimmtes Mass an Sprachenergie zur Verfügung, pro Stunde, pro Tag oder pro Woche. Und wenn ich diese Energie, die sich in Worten äussert, zu sehr strapaziere, fehlt sie mir in den Momenten, in denen sie mich erfüllen könnte: Nämlich wenn ich meine Sprache bewusst für etwas, an dem mir liegt, einsetzen will. Sei es im privaten, oder bei meiner Arbeit als Autor. Der negative Effekt ist allerdings auch bei den großen öffentlichen Kommunikationsprozeßen zu beobachten. Es wird enorm viel agiert. Aber kommt ebenso viel dabei heraus? Es erscheint es mir manchmal, als würde der sinnvolle Inhalt bei diesen Handlungen oft fehlen. Ein Plan, ein Ziel, eine Vision. Oder einfach nur ein scharfes Erkennen des wirklichen Grundes für das Unwohlsein. Gerade in akuten Prozeßen, wie Protesten oder Revolutionen ist dieses Symptom immer wieder sichtbar.

Ist es eine Art von Spracherschöpfung? Wenn ich in diesem Zustand in diese Welt hinausgehe und mich mit Freunden treffe, erlebe ich, daß dieselbe plötzlich entstandene Müdigkeit, meine Worte virtuos und kreativ für meine Anliegen einzusetzen, auch in den Gesprächen mit meinen Freunden fehlt. Das erscheint mir als kollektives Problem. Als würde sich heute fast jeder per sms, email, facebook, Blackberry und Co in ein sprachliches Koma chatten.

 

Diese Entwicklung hat unsere Sprache um jenen alchimistischen Zauber entkernt, der einst Intellektuellen, Philosophen oder Künstlern die Wortgewalt verliehen hatte, mit denen sie zu Kulturstars wurden, zu Vorbildern und Impulsgebern von Bewegungen und Inspiratoren gesellschaftlicher Entwicklungen. Es waren tiefere Inhalte, visionäre Überlegungen, scharfe Analysen, bittere Wahrheiten und die Herzschläge von Menschen, die wir von ihnen verspürten, lasen, hörten. “Die Intellektuellen haben die Macht der Kritik,” sagte Umberto Eco einmal. Doch heute finden Intellektuelle von Rang medial kaum mehr statt. Sie führen ein Nischendasein.


Den Revolutionen dieser Welt ist die Seele der Sprache abhanden gekommen. Diese beflügelnde Magie, die weit über das vordergründige Ziel, eine Regierung zu stürzen, hinausträgt. Die Revolten strahlen Hilflosigkeit aus, Ohnmacht, keine Kraft.

Die aktuellen gesellschaftlichen Bewegungen basieren, egal wie dynamisch sie sind, allesamt auf ausgeleierten Sprachhüllen, überholten Phrasen und alten Gedankengerüsten (‘links’, ‘rechts’, ‘Freiheit’, ‘Terror’, ‘Gefahr’, ‘Kriminelle’ etc.). Sie sind bar jeder neuen, ausgefeilten und weit gedachten Idee. Ihnen fehlt jegliche moderne, zukunftsweisende Vision, die eine hyperindustrialisierte und ununterbrochen kommunizierende Gesellschaft wie unsere dringend bräuchte.

Wie in einer schlechten Form von Schulmedizin orientieren sich unsere politischen Problemlöser an der hastigen Kur von Symptomen. Die Priorität für die Dringlichkeit, ein Problem zu lösen, wird nocht durch den Stellenwert der akute Thematik und seiner Zusammenhänge diktiert. Sie orientiert sich an der ichbezogenen Rhetorik von Verantwortlichen und Leitfiguren, denen immer ihr eigenes Schicksal wichtiger ist, als die Aufgabe, für die sie verantwortlich sind.

Das Zynische daran ist, daß dies jeder weiß und aber auch dazu nichts Neues sagt. Worte sagen nicht mehr so leicht etwas Neues. Seit die Worte die Bedeutung von „Information“ bekommen haben, läßt sich kaum leugnen, daß mit ihnen fast alles gesagt worden ist. Hier wurzelt einer der Ursachenstränge unseres Dilemmas. Und jetzt?

 

Ich halte diese Situation für ziemlich fatal. Es läuft etwas aus dem Ruder. Doch da das Schiff dennoch noch fährt, tun wir nichts. Deswegen stelle ich unseren Umgang mit den Worten immer wieder so sehr ins Visier meiner Kritik. Unsere Sprache ist zu einem Perpetuum Mobile geworden. Wir müssen uns wieder klar machen, wie sehr unsere Freiheit mit unserem Umgang mit der Sprache verknüpft ist. Und diese Qualität definiert sich nicht aus der Masse der Kommunikation, sondern aus der Selbstbestimmtheit des Einzelnen mitten im Kommunikationsvorgang. Was von dieser Sprache rührt wirklich aus einem selbst? Was meint der andere wirklich, und was ich? Was, von dem, was ich soeben verbal von mir geben will, kommt wirklich aus mir und was ist mir von aussen aufgepfropft worden. Wir müssen tiefer in die Seele der Sprache und damit in uns hineinblicken. Dafür ist allerdings ein Quantensprung in unserem Bewusstsein über diesen Gesamtkomplex erforderlich. Zu sehr hat sich die Hohlheit unserer Kultur bereits mit den Worten in uns und ausserhalb von uns verflochten. Unsere Reflexionen bewegen sich oft nur noch innerhalb des Raumes, den uns die Informationsmassen lassen. Zu oft und zu sehr verstellen uns Worte und deren Images die Sicht unserer Sinne. Zu sehr kontrollieren die Worte uns daher, anstatt daß wir sie virtuos benutzen, vielleicht mit bohrender Kraft, um die Imagehüllen zu zerreissen. Benutzen für was? Ja, dies gilt es erst einmal zu entwickeln. Ziele. Wo wollen wir eigentlich hin?

 

Der Zustand in unserer Welt erinnert mich manchmal an die Situation beim Abendbrot in meiner Kindheit. Alle schnattern sich die Münder wund. Ständig nimmt sich einer zu viel von der Leberwurst. Das finde ich letztlich übrigens gar nicht so schlimm finde, solange es nicht auf Kosten anderer geht. Und außerdem gibt es wie damals immer noch keinen, der das Schweigen so verordnen kann, daß wirklich alles schweigt. Gott sei Dank gibt es den noch nicht. Denn das wäre das Schlimmste.

 

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