“Ich will, dass die Anliegen der Opfer nicht vergessen werden”

 

Auf dem Weg zu Verletzten der Maidan-Schießereien

Auf dem Weg zu Verletzten der Maidan-Schießereien

 Übersetzung des Interview mit Christian Seidel für die ukrainische Zeitung “Kyiv-Daily” über die Motivation für seine Ukraine-Aktivitäten , geführt durch die ukrainische Journalistin Olesya Yaremchuk in Lviv:

(Originalwortlaut des Interviews auf Ukrainisch:  http://www.day.kiev.ua/uk/article/media/kristian-zaydel-ya-hochu-zrobiti-vse-shchob-zhertvi-ne-bulo-zabuto )

Der deutsche Autor und Produzent erläuterte im Interview mit der ukrainischen Zeitung “Kiew – Daily” , warum er Geld für die Opfer der Majdan-Erschießungen vom Februar 2014 sammelt, und warum er versucht, mit seinem Projekt den Schleier von den „Himmlischen Hundert“ zu entfernen.

 

„Ich saß am 18. Februar in einem italienischen Cafè, sprach über Facetime mit einem Bekannten, der sich gerade am Maidan befand.“, erzählt der Schriftsteller Christian Seidel, „plötzlich hörte ich Schüsse, das Telefon meines Gesprächspartners fiel herunter, ich sah den Himmel auf meinem Bildschirm, ein Riss ging durchs Bild. Plötzlich befand ich mich in einem Gefühl totaler Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die Szenerie um mich herum wirkte  absurd. Ich sah vor mir kichernde Eis essende Passanten, und innerlich dachte ich, meinen Freund hat es erwischt. Durch meine Wahrnehmung war ein Riss gegangen. Ich war am nächsten Tag in Kiew. Was mit meinem Bekannten geschehen war, fand ich nicht heraus, ich kann ihn seither bis heute nicht mehr erreichen.“

 

Der Filmproduzent und Autor von Büchern wie „Gewinnen ohne zu Kämpfen“ oder „Die Frau in mir“ begann daraufhin, Geld zu sammeln, das den Hinterbliebenen der Euromaidan-Katastrophe zugute kommen sollte. Anfang März waren es ca. 20.000 Euro, die mithalfen, dass einige Verletzte in Krankenhäuser besser behandelt werden konnten. In Kiew koordinierte er zusammen mit der Organisation EuromaidanSOS die Erhebung und Verwendung von Fond-Mitteln für den Maidan. Mit „Himmlische Hundert“ werden heute seit den Ermordungen im Februar 2014 in der Ukraine nicht nur die Helden des letzten Jahrhunderts bezeichnet. Heute ist es die Ansicht der Ukraine, dass die Toten vom Maidan so genannt werden sollen.

 

Seidel, der die Ukraine seit Jahren kennt, glaubt, dass eine der größten Schwierigkeiten in einem Kommunikationsproblem wurzelt, einer Informationslücke zwischen Europa und der Ukraine. Daher begann er, mit einem Team durch die Ukraine zu reisen, und für einen Dokumentarfilm die Hinterbliebenen der „Himmlischen Hundert vom Maidan“ zu filmen und zu interviewen. Durch die Portraits will er die Erinnerung an die Opfer ins Leben zurück rufen, wie man sagt: „Helden sterben nicht…“

 

Frage: „Sie bezeichnen die Ukraine als Ihre „zweite Heimat“ und sagen, dass Ihr „Herz für die Ukraine schlägt. Woher kommt dieses Gefühl, Ihre Sympathie für unser Land?“

 

Seidel: „Meine Frau ist Ukrainerin. Ich habe selbst in der Ukraine eine Zeitlang gelebt, habe viele Freunde hier. Ich war am Maidan  mehrere Male dabei, habe viele der dramatischen Ereignisse miterlebt. In den letzten zehn Jahren habe ich mit Staunen die atemberaubenden und turbulenten Entwicklungen des Landes erfahren. Ich war dort, wo es viel Armut gibt. Sie ist fast überall. Es ist manchmal so grausam, dass die Menschen nichts zu essen haben. Und das in einer Zeit, in der andere einzelne Menschen in der Ukraine absurd schnell unglaublich reich wurden. Darüber hinaus gab es eine wild wuchernde Korruption. Ich glaube, diese Reichtum-Explosion Einzelner hat eine gesunde wirtschaftliche und politische Entwicklung in dem Land verhindert. Die Ukraine war in den letzten Jahren so etwas wie der finanzielle Wilde Westen.

 

Mich hatte das ukrainische Volk immer sehr berührt. Diese herzliche Mentalität. Ich habe gelernt, an die ukrainische Seele zu glauben.  Als ich hier her kam, haben mich viele ukrainischen Gebiete an Deutschland vor hundert Jahren erinnert. Diese unglaublich schöne und unberührte Natur, die wenig durch den Einfluss der Industrie oder Landschaftsplanung verändert wurde. Ich bin mir sicher, dass die Ukraine kulturell und historisch teilweise zu Europa gehört. Aber teilweise gehört sie auch zur russischen Seele. In der Ukraine schlagen zwei Herzen, ein europäisches und auch ein russisches Herz. Meiner Meinung nach ist eines der größten Probleme, dass die Ukraine zwischen dem russischen und westlichen Geist zerrissen wird. Das Land muss eigenständig werden, es benötigt den Raum, um sich selbst zu finden. Diese Verantwortung haben Russland und Europa.

 

Als ich die riesige Zahl Menschen auf dem Maidan sah, die bei minus 10 Grad Monate lang ausharrten, dachte ich, das werden sie nicht durchhalten. Ich erwartete, dass Yanukowitsch versuchen würde, das Ganze auszusitzen. Das hat er auch getan, aber ohne Erfolg. Die Menschen blieben da. Der Vorteil war, dass dieser Winter nicht so kalt war, und dass viele Menschen aus der Bevölkerung täglich Essen und Kleidung brachten, für abertausende Menschen.

 

Diese Euromaidan-Bewegung ist ein neuer Maßstab. Sie ist global ein einzigartiges Phänomen. Vielleicht wurzelt darin die harte Reaktion von Politikern wie Putin. In der Überraschung, dass ein Volk mit seiner friedlichen Aktivität so viel Erfolg haben kann

 

Frage: Warum haben Sie sich entschieden, Geld für den Euromaidan  zu sammeln und den Dokumentarfilm zu drehen?

 

Seidel: „Ich war tief erschüttert von den dramatischen Ereignissen vom 18.-20. Februar. Ein paar Tage lang waren diese Ereignisse das Hauptthema der Diskussion. Viele Menschen in Deutschland sympathisierten mit den Opfern.  Aber dann überschatteten andere Themen die Tragödie. Syrien, die Krim-Krise. Ich habe viele Kontakte zu Verantwortlichen von EuromaidanSOS, und immer wieder gefragt, wie viele Menschen starben, sind verschwunden? Auch am 20sten Februar wollte ich das wissen. Ich hatte in dieser Zeit eine Menge Informationen über meine Facebook- und Blogseite veröffentlicht. Ich schrieb, 40 Tote, dann 50 Tote, dann 90 Tote… Dann sah ich mich damit konfrontiert, dass mich Menschen aus Deutschland zu korrigieren versuchten. Sie dachten, es hätte nur 40 Tote gegeben. So stand es in den westlichen Zeitungen. Ich dachte, was ist los mit der Berichterstattung in den deutschen Medien? Tatsächlich wurde in der Ukraine überall bereits von 100 Toten berichtet, von Tausend Verletzten, in Deutschland aber von viel weniger. In Deutschland gab es keine weiteren Informationen dazu in diesen Tagen. Ich sah, dass das Ganze kein lokales Problem war, sondern eines, das ganz Europa betrifft. Deutschland sagte ja auch „Europa wird die Ukraine schützen!“

 

Aber dieser Wille währte offenbar nur ein paar Tage lang. Schnell gerieten die Geschehnisse am Maidan  in Vergessenheit. Ich  selbst etwas für die Ukraine tun. Es gab zwar einige etablierte Organisationen. Ich aber wollte meine eigene Initiative entwickeln. Dann sah ich, dass es Geld gab, und dass das größte Problem das logistische und organisatorische war. Ich telefonierte mit Kliniken, ob sie Patienten aufnehmen können. Oft hörte ich, dass sie einen Liegeplatz hätten. Aber dann wollten sie die Patientendaten haben. Die gab es aber nicht vollständig, es drehte sich ja um über tausend verletzte Menschen. Es war schwer, hier etwas zu koordinieren.

 

Ihre Frage war aber, warum bin ich so ergriffen von dem Euromaidan? In den letzten Jahren dachte ich sehr oft über die Arbeitsunfähigkeit unserer Demokratie nach. Mir fiel aber kein  besseres System ein. Oft diskutierten Bekannte und ich über Alternativen zur Demokratie. Die Bewegung des Euromaidan finde ich in dieser Hinsicht sehr interessant. Hier ist ein friedlicher politischer Prozess entstanden, der direkt aus dem Volk kam. Als ich das erste Mal auf dem Maidan war, war ich über die tolle Organisation und die Friedlichkeit verblüfft. Es gab keinen Alkohol, es war alles sauber – zumindest soweit es ging und soweit es das Wetter zuließ. Die Luxusboutiquen, die direkt am Khreschatyk und um den Maidan angrenzen, wurden weder beschädigt, noch zerstört. Im Gegenteil, sie unterstützten die Menschen. Mich überraschten diese idealistischen, positiven menschlichen Qualitäten, die ich auf dem Maidan wahrnahm. Das war etwas ganz Anderes, als wie ich es von Revolutionsbewegungen in Ägypthen oder Tunesien kannte.

Ich halte den Euromaidan und das, was er verkörpert, was er geschaffen hat, für ein weltweit einzigartiges Phänomen.  Das ist eine absolut positive und engagierte Bewegung von Menschen, die alle ein gemeinsame Ziel haben: Freiheit von der sie beherrschenden Korruption. Ich habe auch immer wieder mit Mitgliedern des rechten Sektors gesprochen. Und ich habe nicht den Eindruck, dass man diese Menschen einfach so als „radikale Faschisten“ über den Kamm scheren kann. Vielleicht sind einzelne darunter. Aber grundsätzlich kommt es mir so vor, als wären das Menschen, die im Lichte des dramatischen Zustandes ihres Landes und ihrer Dörfer einfach einen kompromissloseren Weg wählen wollen, um frei zu sein. Ich glaube, und hoffe, sie haben nichts mit Neonazis zu tun, ich habe keine Hitler-Ideologie gesehen, wie man sie in Westreuropa oft findet. Vielleicht gibt es Einzelfälle oder Splittergruppen. Aber ich bin überzeugt, dass man in der Ukraine Begriffe wie „Faschisten“, „Radikale“, „rechtsradikal“ individueller definieren, von unserem Verständnis in Europa differenzieren, und in den Zusammenhang mit der Situation des Landes stellen muss.

 

Frage: Wie sehen Ihrer Meinung nach die deutschen Medien die Ereignisse in der Ukraine? Hat die russische Propaganda einen Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland?

 

Seidel: Diese Situation macht mich extrem betroffen. Es hat sich bis heute zwar etwas gebessert. Aber ich sehe bis heute, dass die deutschen und europäischen Medien ihre Informationen und Meinungen stark aus russisch-sprachigen Quellen beziehen. Es existieren für diese gesamte Region fast nur russische bzw. russisch-sprachige und russische beeinflusste Medien. Es existiert aber auch das ukrainische Fernsehen, das allerdings auf ukrainisch berichtet. In Europa versteht aber kaum jemand Ukrainisch.  Oft werden Korrespondenten aus Moskau nach Kiew geschickt. Viele sind beeinflusst von den russischen Medien und sehen durch diese Brille die Situation in der Ukraine. Viele Menschen in Europa, insbesondere in Deutschland, denken, Russland und die Ukraine sind Brudervölker. Sie kennen sich nicht aus, sie wissen nicht, dass es einen großen Unterschied zwischen der Ukraine und Russland gibt. Es gab vielfach Ausrottungen, Deportationen des ukrainischen Volkes durch die Russen. Das sind zwei völlig verschiedene Mentalitäten, die verschiedene Sprachen sprechen, die gegenseitig kaum verständlich sind. Erst seit Kurzem wird klarer, wie tief die Kluft zwischen Russland und der Ukraine ist.

 

Ich bin eine Person, die aus dem Medienbereich kommt, und ich finde es schrecklich, wie verzerrt in einigen deutschen und europäischen Medien die ukrainische Situation dargestellt wird. Viele Journalisten wissen schlicht nichts. Sie haben keine Ahnung von dem, was in der Ukraine geschieht, reden aber darüber, weil sie denken, das tun zu können, nur weil sie Journalisten sind. Dabei läßt sich so leicht recherchieren, was in der Ukraine los ist. Man musste damals nur auf den Maidan gehen und mit den Menschen sprechen, man musste nur aufs Land fahren, dort mit den Menschen sprechen, welche, die aus Donezk kommen, aus Cherkassy. Dann sieht man mit den eigenen Augen, dass viele Menschen nichts zum Essen haben, geschweige denn Arbeit.

Im Internet gibt es viele glaubwürdige authentische Quellen, z.B. die von EuromaidanSOS. Es geht nichts über die eigene Erfahrung.  Aber viele Journalisten kamen aus Moskau in Kiew an, mieteten sich im Hotel Ukraina ein, und beobachteten von dort aus sicherer Entfernung das revolutionäre Treiben. Dann stellten sie sich vor ihre Fenster, hinter denen Rauch aufstieg und die TV-Kameras vermittelten dann den Eindruck, als wären sie mitten im Geschehen. Anstatt dass sie wirklich in die Tiefe recherchierten.

 

Mit ist aufgefallen, dass in Europa die Nutzung der digitalen Medien extrem geworden ist. Auch bei Journalisten. Sie gehen viel weniger auf Pressekonferenzen, als früher, da es ja das Internet gibt. Diese Entwicklungen sind eine Einschränkung des modernen Journalismus, die hier eigendynamisch geschieht, die ich gefährlich finde.

 

Frage: Was können wir tun, um dies zu ändern?

 

Seidel: Es ist notwendig mit Europa zu kommunizieren! Geht nach Europa und erzählt, wie es wirklich ist in der Ukraine. Deswegen habe ich mit Mitgliedern von EuromaidanSOS kürzlich eine Pressekonferenz in Berlin veranstaltet, auf der wir live via Skype zu Aktivisten in die Ostukraine und die Krim geschaltet haben. Es hat sich gezeigt, dass viele anwesende Journalisten erstaunt waren und sehr interessiert, weil sie plötzlich Informationen aus erster Hand bekamen. Genau das muss viel mehr gemacht werden.

 

Frage: Was für eine Dokumentation machen Sie gerade, was haben Sie bei Ihren Interviews über die Menschen, die auf dem Maidan-Platz starben, gelernt?

 

Seidel: Meiner Meinung nach sind das wirklich die ersten wirklichen Helden dieses Jahrhunderts gewesen. Vielleicht ist das etwas überspitzt ausgedrückt, aber diese Krone darf man diesen Menschen durchaus aufsetzen. Die Menschen, die in der Insitutskaya gekämpft haben, hatten einen aussergewöhnlichen Willen. Der Druck auf die Demonstranten war stark. Sie wurden bedroht, dass sie alle ins Gefängnis kämen und gefoltert würden. Da konnten sie nur weiter kämpfen. Die Polizei tat alles, um die Aktivisten und die Revolution zu zerstören. Diese Leute, die auf dem Maidan gestorben sind, sowie diejenigen, die überlebt haben, sie sind ein Symbol für den Freiheitswollen der Ukrainer.

 

Als ich darüber nachdachte, was ich für Euromaidan tun könnte, merkte ich, dass eines der Hauptprobleme – wie ich bereits sagte – in der Kommunikation liegt. Daher entschied ich mich, in einem Dokumentarfilm zu zeigen, was wirklich geschehen ist. Ich möchte, dass diese Opfer nicht vergessen werden, sie sollen verewigt werden. Ich kann leider keinen Film mit den Verstorbenen selbst machen. Aber ich kann die Familien und diejenigen, die überlebten portraitieren. So beschloss ich, mit den Witwen, Kindern und Freunden zu sprechen. So hole ich die Toten wieder ein wenig in unsere lebendige Präsenz zurück, und mit ihnen die Seele von Euromaidan.

 

Diese Revolution ist zwar gewonnen worden. Aber die Menschen empfinden trotz des Siegs keinen Trost, weil der Preis zu hoch war. Dabei dreht es sich ja nicht nur um die Toten und Verletzten. Unzählige Menschen können nicht mehr in ihr normales Leben zurückkehren. Im Februar ist auch eine entsetzliche, psychologische Tragödie geschehen. Schwere Traumatisierungen. Ich habe mit einem Mann gesprochen, der im Hagel von Scharfschützenkugeln hinter einem dürren Baum Schutz suchte. Hinter ihm suchten mehrere weitere Demonstranten Deckung. Als er sich umdrehte, waren alle tot. Seither leidet er unter furchtbaren Schuldgefühlen. Bei vielen Menschen gibt es schwere psychische Traumas. Viele wissen das gar nicht.

 

Viele hatten gedacht, Russland würde helfen, es würden Lebensmittel, medizinisches Material, Geld geschickt werden. Stattdessen wurden die Menschen von Russland Terroristen und Faschisten genannt. Und auf der Krim begann eine Hölle von hinterhältiger Annexion. Diese Ungerechtigkeit belastet mich furchtbar. Das ist nicht menschlich. Und das ist mitten in Europa. Wieder begann ein politisches Spiel. Und niemand denkt mehr an die Menschen vom Maidan.

 

Nun ist es für mich die wichtigste Aufgabe zur Zeit, ein Portrait der Gefühle des Euromaidan zu erstellen. Fühlen, vom Herz her, für diese Menschen, für die Menschen der Ukraine, und ihr großes Herz.

 

Das Interview mit Christian Seidel für Kyiv Daily führte Olesya Yaremchuk vor einer Woche in Lviv, Übersetzung durch Halina Hevkiv. Originalwortlaut des Interviews auf Ukrainisch:  http://www.day.kiev.ua/uk/article/media/kristian-zaydel-ya-hochu-zrobiti-vse-shchob-zhertvi-ne-bulo-zabuto

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