Seelennackt

 

Christian und Christiane

Christian und Christiane

Seelennackt“. So nannte ich diesen Zustand: Ich stand auf der Straße, in meinem ersten Kleid, knapp knielang, wunderschönes Dunkelblau – und fühlte mich komplett schutzlos. Langes, blondes Haar, ein natürlich aussehender Busen. „Echt wippend“, hatte die Verkäuferin betont. Ihr Geschäft beliefert allein im Einzugsbereich München über 70 000 Männer mit Brüsten und Perücken. „Nur wenige sind Transen“, hatte sie gesagt. „Die meisten sind wie du.“ – „Wie ich?“, fragte ich. „Wie bin ich denn?“ – „Wie normale Männer.“ – „Und was sind ‚normale’ Männer?”  Dass man wie ich „normal“ verheiratet ist?”

 

 

Mein Mannsein jedenfalls war bedroht, sobald ich Kleid und Perücke anzog. War das nicht grotesk? Heterosexuelle Männer dürfen anscheinend nicht weiblich sein. Nie. Und seelennackt, so wie ich mich plötzlich fühlte, schon gar nicht. Männer müssen immer gewappnet sein. Gegen was eigentlich?

 

Meine Exkursion ins Land der Weiblichkeit hatte harmlos begonnen. Mir war es im Februar einfach zu kalt an den Beinen gewesen. Und im Kaufhaus war ich mit dem konfrontiert, was Männer unter ihrer Hose tragen: ein ideenloses Grauen. Da ich diese langen Unterhosen hasste, verschlug es mich in die Damenabteilung. Da stand ich vor tausenden Varianten von Nylonstrümpfen.

„Nein!“, plärrte eine Stimme in mir. „Das dürfen nur Frauen!“ Angestachelt griff ich ins Regal: „Ist das so, nur Frauen dürfen das? Und was geschieht, wenn ich es trotzdem tue? Bin ich dann kein Mann mehr?“ Es war, als hätte sich eine Schleuse geöffnet.

 

Mein Leben lang war ich ein Mann gewesen, der diesen Spagat zu leben versuchte: etwas Bedeutsames zu leisten, stark und erfolgreich zu sein, dabei aber Mensch bleiben – ein fast unmögliches Unterfangen.

Schon immer wollte ich auch meine Gefühle ausdrücken, meiner Sehnsucht folgen. Meine kreativen Projekte mussten “Sinn” machen, um in der Männerwelt zu bestehen, natürlich geschäftlichen Sinn. Und mit den Frauen gelang mir meistens nur eine Annäherung. Wir liebten, stritten und trennten uns. Etwas fehlte meistens.

 

„Weiblichkeit“ war so oft eine Schamgrenze für mich gewesen. Warum nur? Auch Frauen tragen Hosen, dürfen sich männlich verhalten und gelten trotzdem als vollständige Frauen. Und seltsam: Je mehr ich Nylons und Röcke anzog, desto entspannter fühlte ich mich. Vollständiger. Gleichzeitig war ich nach wie vor gerne ein Mann. Es war, als hätte ich mir etwas Verdrängtes zurück geschenkt. Hatte mir das immer gefehlt, schlicht „Weiblichkeit“?

 

Einmal in dieser Zeit reiste ich geschäftlich nach London. Vor so einer Reise als ‚Frau’, durch alle Passkontrollen hindurch, hatte ich die größte Angst. Deswegen machte ich sie erst Recht. Ich wollte mich loslösen von dieser Männerschranke in meinem Kopf. So hatte ich mich absichtlich betont sexy gekleidet, mit einem coolen, kurzen Rock. Die Beamtin bei der Passkontrolle sagte prompt „Frau Seidel“ zu mir. Ich wurde wie eine Frau behandelt, ganz normal war das anscheinend.

Bei der Gepäckkontrolle stupste mich eine Mitreisende an: „Sie haben so schöne Beine, ich beneide Sie!“

Ein Managertyp im grauen Anzug zuckte angepeinlicht zur Seite und hackte etwas in seinen Mobilknochen. Ich genoss mein Frausein. Prickelnd wohlig, weil so neu, fühlte sich meine Reise durch die Geschlechterwelt an.

 

Als Frau bekam ich Komplimente und nahm sie an. Als Mann weist man sie von sich. Endlich durfte ich auch schön sein wollen. Als Mann würde man mich für zu narzistisch halten. Ich entdeckte meine Gefühle neu, meine Sinne. Die durfte ich nicht nur spüren, sondern auch leben. Männer denken Gefühle, und ja, Frauen dürfen Gefühle zeigen!

Männer nehmen Gefühle vorsichtshalber an die kurze Leine: Weichei-Gefahr! Auch ich selbst war so ein Mann gewesen. Doch aus diesem Rollen-Gefängnis wollte ich ausbrechen. Ich wollte innerlich mehr spüren, etwas verändern. Meine Erfahrung sollte daher so lange dauern, bis mein Frausein Gewohnheit wird. „Mindestens neun Monate“, dachte ich einmal, „so lange wie Frauen schwanger sind.“

 

Funktionierte mein Leben auch ohne die aufgesetzten Geschlechtergrenzen? Das konnte ich nur erfahren, wenn ich meiner Umwelt nicht erlaubte, meine Erfahrung als “Projekt” zu klassifizieren. Ich wollte einen anderen Eindruck entstehen lassen, aussehen, als würde ich jetzt genau so sein: eine Frau, ein entgleister Mann – oder irgendwas dazwischen.

 

Was würde von mir und meiner bisherigen Identität übrigbleiben? Dazu sagte mir bald ein neuer Schmerz in meiner Männerseele etwas:

Je länger ich Frau war, desto weniger mochte ich die Mitglieder meines Geschlechts. Ich gewöhnte mich an das Befreitsein von kategorischen Männerregeln, wollte nicht mehr zurück in die Welt des Wettbewerbs, der Sakkos und Abenteuer-Looks, in der man zu den Frauen schielte und nicht schaute. Wie schön war es, als Frau anderen Frauen auf Augenhöhe begegnen zu können, ganz leicht und locker.

 

Mein Wechsel ins Lager der Frauen führte mir den verletzlichen Teil meiner Männerseele vor Augen: Weiblichkeit.

Indem ich sie nie wirklich lebte, ja sogar ausgrenzte, definierte ich mein Mannsein. Vielleicht erinnerte mein Aussehen andere Männer an ihre eigene Verdrängung.

 

Reagierten sie deshalb so allergisch auf mich? Wenn sie mir in einem Lokal lüstern (oft vor den Augen ihrer Frau) ihre Visitenkarten zusteckten. Wenn sie mich in U-Bahnen absichtlich anrempelten und ich dadurch umso mehr die sich vorsichtig bewegenden Frauen wahrnahm. Wenn sie ausspuckten, direkt vor mir, und Würgegeräusche beim Vorbeigehen machten.

 

Sie gingen mir nicht aus dem Weg, aber sie hielten mir die Türen auf, bis sie merkten, dass ich keine echte Frau war. Dann knallte die Tür auf mich zurück.

Immer mehr Frauen begannen immer offener mit mir zu sprechen. Ich bemerkte, wie viele Frauen doch wirklich tiefe Probleme mit Männern hatten. Besonders in der Arbeit – wenn sie diese überhaupt bekamen. Ich sah die Frauenquote plötzlich in einem anderen Licht: War es nicht geradezu peinlich skandalös, dass eine Geschlechtergruppe, die mindestens genauso gut qualifiziert war, und die genauso groß war, wie die der Männer, jahrelang darum kämpfen werden muss, um das Anrecht auf ein paar Führungsjobs zu bekommen?

Die Männer helfen den Frauen in die Mäntel, aber nicht in die Jobs. Warum denkt man eigentlich nicht mal über eine Männer – Minusquote nach?

Wie falsch empfand ich dieses In-den-Mantel-helf-Gebare auf einmal, so sehr, dass ich es beim Ausgehen prompt auszuschlagen begann.

 

„Endlich einmal einer, der die Regeln bricht!“, sagte mir eine Freundin, die ich in London zum Tee traf.

„Welche Regel meinst du?“, fragte ich sie.

„Na, dass wir Frauen so und die Männer so zu sein haben.“

Ihre offenen Worte freuten mich. Ich musste an meine Frau denken. Als ich ihr das erste Mal in Frauenkleidern gegenüber stand, rief sie entsetzt: „Ich habe doch einen Mann geheiratet, keine Frau!“

War ich etwa ein menschlicher Kleiderständer?

„Du siehst mich nur von außen, ich bin doch trotzdem ein Mann.“ Oder etwa doch nicht mehr?

 

Langsam rutschte ich in einen Identitätskonflikt. War ich für andere nur so, wie sie mich äußerlich sahen? War ich ein Mann, wenn ich mich als solcher empfand oder erst, wenn man mich für einen hielt? Was war ‘Mannsein’ überhaupt?

Mein äußerliches Frausein hatte eine Revolution ausgelöst. Nichts war mehr so wie zuvor. Krise mit meiner Frau. Fast alle Männerfreunde wandten sich von mir ab. Weibliche kamen hinzu. Und eine wertvolle Erfahrung: Die Grenze zwischen uns Geschlechtern löste sich auf!

Ohne diese Polarität wurden Beziehung, Sex und Lebensintensität sogar besser.

 

„Wenn ich dir in die Augen schaue, sehe ich keinen Mann, wenn wir zusammen schlafen, fühle ich diesen Unterschied nicht“, sagte meine Frau eines Tages plötzlich. „Du bist weniger Mann und mehr Mensch, und ich selbst fühle mich stärker, nicht mehr auf die Frauenrolle reduziert.“ – „Wirklich? So geht’s mir auch.“

 

Ich war ein klein wenig glücklich in dem Moment. So hätte ich auf Dauer weiterleben können. Das Frausein gefiel mir entschieden besser als das Mannsein.

 

Ganz ehrlich? Die Männer tun mir leid. Sie müssen wirklich etwas an sich tun: Fragezeichen zulassen. Die Tatsache, dass sie von den Frauen geboren werden und nicht vom lieben Gott – es sei denn, dieser war eine Frau. Aber für diese Entwicklung, die eigentlich eine Befreiung ist, dazu braucht es auch die Frauen. Sie dürfen dieses alte, verkrustete Männerbild nicht mehr bestätigen. Dieses Klischee des alle Probleme bewältigenden und die Welt managenden Mannes. Sind seine Arbeitsergebnisse letztlich nicht erbärmlich? Wenn man die Horden abertausender Männer, die sich an den Brennpunkten dieser Welt gegenseitig die Köpfe einschlagen und Frauen vergewaltigen, erscheint das so. Auch die Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, die sozialen Schiefstände, sind sie letztlich nicht Ergebnis einer männerregierten Welt? Aber natürlich heisst es dann sofort, dass auch Frauen böse und nicht perfekt seien, dass auch Frauen Männer schlagen, und dass Deutschland ja von einer Frau regiert wird… Und wer entgegnet so etwas? Männer.

 

Nach über 18 Monaten beschloss ich, wieder als Mann zu leben. Zwangsläufig fast, war ich doch äußerlich gesehen schlicht ein Mann, und was blieb mir anderes übrig, als mich wieder als funktionierendes Zahnrädchen in den Geschlechteralltag zu fügen? Doch innerlich konnte und wollte ich die Uhr nicht mehr zurückstellen. Ich lasse es mir bis heute nicht nehmen, so zu leben wie ich will, von jedem Teil in mir selbst zu kosten, wenn ich Lust darauf habe, ganz besonders von dem der Weiblichkeit, und das nach aussen hinauszudrücken. Warum sollte ich mich nicht so kleiden, wie ich will? Es ist ein wunderschön freies Gefühl.

Heute nehme ich den Mann-Frau-Graben nur noch als verschwimmenden Bereich wahr. Er zeigt sich in der Mode, in Stilen, in Vorstellungen, erstarrten Verhaltensweisen und Glaubenssätzen. Ich würde heute sagen, dass jeder Mann auch eine Art Frau ist. In dieser Einsicht kann ein Schlüssel für Männer liegen.

 

Einmal machte mir meine Frau ein Geschenk. Ohrringe. „Heute gehen wir aus“, sagte sie. „Als Freundinnen!“ Es war einer der schönsten Momente. Wir verglichen unsere Röcke, halfen uns beim Schminken. Im Restaurant sprachen wir über Themen wie noch nie. Wir brauchten keine aufgeblähte Geschlechterpolarität, um ein Prickeln zu spüren.

Viel zu wenig hatten wir früher über unsere Gefühle, unsere Sexualität gesprochen oder einfach herumgealbert. Ein unsichtbarer Vorhang hatte sich aufgezogen. Wir waren zwei Menschen, nicht mehr nur Mann und Frau.

 

CHRISTIAN SEIDEL (Auszug aus dem Buch “DIE FRAU IN MIR – Ein Mann wagt ein Experiment” / Heyne Verlag 2014)

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