Der blaue Schmetterling

Wir waren völlig übernächtigt und fertig und irgendwo am Gardasee griff bei 220 km/h der Sekundenschlaf nach unserem Wagen. Nach den Überschlägen stürzten wir in einen Abgrund, in einen Hügel voller Weinstöcke. Da hockte ich nun und blickte mich um und zum ersten Mal in meinem ‚erfolgreichen’ Leben sah ich einen blauen Schmetterling. Er zog meine Aufmerksamkeit magnetisch in seinen Bann. Mein Gefühl von Zeit und Raum schien sich aufgelöst zu haben. Verständnislos und fasziniert saß ich da und überlegte seelenruhig, warum dieses Tier so unbekümmert herumflog hier im Sonnenlicht, ähnlich ziellos, wie die Glassplitter soeben noch, nur viel langsamer und anmutiger, während drüben in dieser rauchenden Blechmasse mein Freund lag und ich auf einem zerquetschen Weinstock saß, wie eine aus ihrem Topf herausgerissene Pflanze, aber völlig, ja fast erschreckend unversehrt, kratzerlos, zwischen Ästen, Splittern, Blech, unserer Wäsche und unseren fünfhundertachtzig aus Kuba herausgeschmuggelten Havanna-Zigarren, die aus unserem Kofferraum herausgeplatzt waren. Irgendetwas von mir blieb hier in der Vergangenheit hängen. Ich beobachtete meine Gedanken dabei, wie sie über den Reifezustand der Weintrauben sinnierten, statt daß sie mir das Kommando gaben, sofort aufzuspringen, um etwas zu tun, irgendetwas, einfach etwas tun. In diesen Momenten hörte ich diese neue Stimme in mir. Ich kannte sie nicht und trotzdem hatte ich tiefes Vertrauen zu ihr. Sie zu hören, war, als würde ich nach Hause kommen. Sie sagte mir:

 

„Jetzt rauchst Du erst mal eine Zigarre!“

 

Eine von den anderen, älteren Stimmen, rief: „Jetzt bist Du verrückt geworden.“

Sie hatten mich in meinem bisherigen Leben durch die Welt getrieben, diese anderen Stimmen angetrieben:  ‚Du sollst besser sein! Dieses Projekt fantastisch! Du musst noch mehr machen! Es reicht nicht!’

Sie hatten mich durch mein Leben getrieben, wie einen willenlosen Galeerensklaven.

Und jetzt diese neue Stimme, sie ließ sich nicht beirren:

„Lasse Dich nicht unter Druck setzen. Nie mehr. Folge dem, was Du bereits weißt.“

So hellblau, wie der Himmel noch war und so lebendig, wie ich da saß, ja, da musste eine Havanna in meinen Mund! Doch es gab eine Pflicht. Wie in einem diffusen Alptraum bewegte ich mich traumwandlerisch auf das Wrack zu, fing zu laufen, hin zu meinem Freund, und tat mein Möglichstes, was mir wieder, wie alles in meinem bisherigen Leben, nie genug vorkommen sollte. Ein paar Minuten später ließ ich mich wieder ins Gras fallen. Ich steckte mir die Zigarre an und freute mich über mein Leben wie noch nie. Bis ich meine zitternde Hand sah und sich der Schrecken in meiner Brust breit machte wie ein Schwelbrand, den kein Wasser dieser Welt mehr löschen kann. Von diesem Moment an folgte ich nur noch meiner neuen Stimme. Sie hatte gesagt, ich solle mich nie mehr unter Druck setzen. Sie meinte, ich wisse alles. So beschloss ich, mein Leben zu verändern.

 

Mit dieser Erinnerung in meinem Herzen nehme ich im Sang-Gaesa Kloster an diesem Morgen den zarten Duft von Blumen wahr. Es ist die älteste Tempelanlage der Buddhisten auf dieser fernostasiatischen Halbinsel. Und die darum liegende Natur strahlt etwas aus, als würde sie mitmeditieren. Das Aroma der wilden Pflanzen erinnert mich an den Weinberg, in welchem ich nach zwanzig Jahren Leben auf der Überholspur gelandet war. Das vage Schimmern von Licht in den Blütenblättern signalisiert jetzt das Aufsteigen der Morgensonne. Endlich fühle ich mich ein klein wenig erleichtert. Nach den Taekwondo – Trainings mit Chy-Eun in den letzten Tagen spüre ich meine Muskeln und Knochen auf eine wohlige Weise und meine neue Stimme sagt mir, daß mein Weg nie ein Ende haben würde.

 

In einer Pagode schlägt ein Mönch eine überdimensional große Glocke. Die dunklen Schatten um mich herum verwandeln sich in Pflanzen, in Landschaften, so wunderschön, wie ich sie noch nie gesehen habe. Langsam trauen sich auch die Bäume der Laubwälder in ihren rotgoldenen Herbstfarben zu schimmern. Sie erinnern mich an meine europäische Heimat. Unsere Wälder. Und wie in einem Dejavu wähne ich mich plötzlich zu Hause. In der Ferne auf der anderen Seite des Tales erkenne ich einen Weg, der sich wie ein knorriger Ast in Richtung Himmel windet. Doch immer wieder höre ich auch die Worte des Meisters in mir. Ich erinnere mich noch einmal, wie mir die junge, koreanische Kampfgefährtin im ‚Dojang’, dem Taekwondo – Trainingssaal der alten Universität bei Seoul, wieder auf die Beine geholfen hatte. Ein Gefühl von Verbundenheit und Gleichheit hatte nach meinem Herz gegriffen, als ihre Hand die meine umschlossen und sie mir auf die Beine geholfen hatte. Sie war bereits mit Zwanzig eine Meisterin des Kampfes gewesen. Und ich hatte gerade erst einmal vor ein paar Jahren angefangen, so etwas zu üben. In einem Anflug von Selbstüberschätzung hatte ich alter Mann mir eingebildet, gegen die hübsche koreanische Meisterin Chy-Eun gewinnen zu können. Als ich schwer nach Luft schnappend wieder auf den Beinen stand, tauchte plötzlich der Meister neben mir auf. Mit seiner unendlichen Wärme sagte er: „Es gibt eine Möglichkeit, auf einem Weg zu gehen, ohne zu stolpern. Es dreht sich um Genauigkeit! Du hast Erfahrungen, Du weißt, wie es geht. Du weißt alles, Du musst die Welt nicht neu erfinden, wozu? Wende einfach an, was Du selbst weißt!“

 

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