Rote Ampeln

Stehenbleiben oder weitergehen? Das Ampelgefühl schon wieder. Wie ich ihn hasse, diesen Druck, zu müssen und nicht zu können. Zu wollen und nicht zu dürfen. Oder umgekehrt: Nichts zu wollen, aber mich nicht gegen dieses innerliches Drängen erwehren zu können.

 

In diesem Fall standen ein mir unbekannter Mann und ich vor einem Bild und nicht vor einer roten Ampel. Der Typ wirkte ziemlich relaxt. So sehr, daß meine Schultern sofort herumruckten, genau diese Relaxtheit suchend. Ich nahm ihn aus den Augenwinkeln mehr wahr, als das Kunstwerk an der Wand. Die Vernissage, auf der ich mich in München befand, in der Galerie in der Lindwurmstr. 44, mit den Werken von Künstlern aus Kiew und München, sie war eine etwas bizarre Veranstaltung. Gerade noch hatten sie eine ausufernde Gruppendiskussion fast nicht mehr unter Kontrolle bekommen, in der über Brückenverbindungen von Kunst und andere Unwägbarkeiten debattiert wurde. Ich mußte währenddessen zwei Gläser Rotwein trinken, um nicht gehen zu müssen. Hier kam ich mir gestern vor wie in einem Wald voller Ampeln. Ein Reißausgefühl der besonderen Art.

 

Das Bild, vor dem ich wegen des besonders relaxten Typen neben mir länger stehen mußte, als ich wollte, ist schwer zu erklären. Ich will es nicht, aber ich muß, ich muß es tun, um mit diesem Text hier weiter zu kommen: Mehrere weiße Flecken, darum grüne Flächen. Abstrakt. Ich wußte nicht, was ich von diesem Bild halten sollte. Bei Kunst gehe ich nach meinem Bauchgefühl. Sie schmeckt mir oder sie behagt mir gar nicht. Meistens kann ich mit Kunst nichts anfangen. Doch mein Lieblingsbild kannte ich bereits. Und für dieses kleine, wunderbare Gemälde hatte sich bereits der gesamte Abend gelohnt. Das Bild „Movement of thoughts“ der ukraninischen Künstlerin Galina Popinova. Als ich vor diesem etwas verschwommen gemalten Bildnis einer gedanklich wahrgenommenen, sitzenden Frau stand, regte sich in mir nichts mehr. Diese fast neurotische Unruhe, die mich sofort quält, wenn ich an Fußgängerüberquerungen stehe, die von Ampeln geregelt werden,  war wie weggeblasen. Die Momente strichen vorbei. Das Stimmengewirr der Vernissage-Besucher  blendete sich aus. Ein ampelloser Moment.

 

Aber jetzt hier, bei diesem neuen Bild, erschien es mir so, als würde ich an einer Ampel stehen, deren Farben ich nicht erkennen kann. Sie muß wohl auf Rot geschaltet sein. Wie immer überwältigte mich meine Zwanghaftigkeit, wie bei Roten Ampeln einfach loszumarschieren, denn ich bin ja ein freier Mensch, ein wirklich freier Mensch, so unendlich frei, so wahnsinnig überfrei sehr, daß daß ich dies selbst als erwachsener Mann auch heute noch bei jeder Ampel unbedingt mir selbst und anderen gegenüber demonstrieren muß. Deswegen gehe ich auch immer wieder in Kunstausstellungen. Kunst hat ja irgendwie etwas mit Freiheit zu tun, rede ich mir stets ein, auch wenn die Künstler oft einen solchen Mist fabrizieren, daß ich die Freiheit am liebsten abschaffen würde und dem Künstler unbedingt gerne erläutern würde, wie er besser zu malen hätte. Offenbar reagiere ich auf Kunstwerke wie auf Ampeln: Ferngesteuert von meinem inneren Ziehen und Zerren. In dem Moment meint der Mann neben mir: „Bei roten Ampeln übe ich mich im Stehenbleiben. Ich versuche zu relaxen.“ Dabei atmet er tief durch, winkelt demonstrativ sein rechtes Bein an und schaut interessiert in der Gegend herum. „Die Menschen sind so interessant! Es tut sich so viel, warum auf diese rote Ampel schauen!“  Ich sage: „Ich muß bei roten Ampeln losgehen. Ich kann nicht anders!“

 

 

Wir sehen das Bild an. Wir stehen noch immer da. Ich bin noch nicht losmarschiert. Auch er schaut. Dabei gibt es nicht den geringsten Querverkehr. Keine Gefahr, überfahren zu werden. Es fährt keine Straßenbahn zwischen mir und dem Bild hindurch, kein Lastwagen, keines dieser Taxis, nichts. Ich könnte einfach losgehen. Oder zurück. Oder auf die Seite. Aber ich stehe immer noch da. Dieses Bild kann keine Ampel mehr sein. Ich weiß das nur noch nicht. Können auch Bilder umschalten, von Rot auf Gelb auf Grün? Auch dieses Bild hat etwas, bei dem sich meine Zwanghaftigkeit, weitergehen zu müssen, oder nicht weitergehen zu müssen, oder mich auch nur damit auseinandersetzen zu müssen, ins Nichts auflöst. Etwas Andersartiges, etwas mir Unbekanntes hat dieses eigenartige Kunstwerk. Ich muß dringend anfangen, meine Einstellung zu roten Ampeln zu überdenken. Eine empfehlenswerte Ausstellung!

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