Ohne Bremsen leben

Nein, es braucht sie nicht, die Notbremse. Wir sind ja gar nicht in Fahrt. Das angenommene Tempo existiert nicht. Es ist nur eine Addition von Begriffen und Verständniskonglomeraten. – Die rasen alle so schnell! Können sie nicht weiter weg von mir vorbeigehen. Warum sprechen sie so laut? Die klickenden Fotokameras der Touristen, welche die Münchner Feldherrnhalle aufnehmen wollen. Und ich sitze darunter, in der Ecke einiger Stufen. Komisch, es sind immer die Italiener, die mitten zwischen uns durchmarschieren, ohne die Stimme zu senken, ohne zu bemerken, was hier los ist. Wir meditieren, hier, mitten auf dem Odeonsplatz vor der Münchner Feldherrnhalle. Ein paar hundert Menschen haben sich zusammen gefunden, um, ja, was eigentlich…? Um, ich glaube, ich muß bei mir selbst suchen. Herausfinden, warum ich hier mitten auf einem belebten Platz sitze und meditiere. Ich war auf der Suche nach einer Bremse. Welche auch immer, jedenfalls erschien mir diese als die nächstliegende.

 

Manchmal, gestehe ich jetzt gleich, habe ich unmeditativ geblinzelt.  Ich wollte sehen, was das für ein Glockengeläute ist, das sich plötzlich von links nach rechts bewegt. Ah! Ein Oktoberfestgespann mit mehreren Rössern und Bierfässern. Eine Horde Touristen wendet sich von der Feldherrrnhalle ab, unter der wir sitzen und hechtet zu dem Geläute hin. Ich schließe die Augen wieder. Kann ich es überhaupt, das Meditieren? Darf ich überhaupt hier sein, als einer, der das alles nicht so ernst nimmt, dieses Stillssitzen, die Augen schließen, den Atem beobachten, das sein lassen, was ich wahrnehme, was mich stört oder sonstwie agitiert?

 

Bei diesem Seelenjucken meiner kleinen inneren Unruhe öffne ich ein wenig meine Augen. Erleichtert stelle ich fest, daß dort draußen die Welt immer noch genauso rast, wie vorher, beim letzten Blinzeln.

 

Nein. Es rast nicht in mir. Das Tempo befindet sich draussen. Ich sitze hier ganz still. Es wird kühler, weil die Theatinerkirche jetzt einen Schatten auf mich wirft. Für einen kurzen Moment denke ich ganz unmotiviert und ungebremst an dieses Blümlein, das mir gestern an einem Wegesrand aufgefallen war. Alleine dafür hat es sich schon gelohnt, wegen all diesem Treiben um mich herum nicht auf die innere Bremse zu steigen.

 

Ich habe immer eine Bremse gesucht. Irgendeinen Knopf, der mich endlich zum Stillstand bringt. Dabei gibt es gar keine Geschwindigkeit.

 

Ich habe immer gedacht, daß ich es bin, der Gas gibt, der den Blinker einschlägt, um die anderen zu warnen: “Achtung! Ich fahre gleich um die Kurve!”

 

Was ich als Tempo wahrnehme, ist die Reibung zwischen mir und meiner Außenwelt, dieses ewige Spannungsfeld, in dem es immer nur Gewinner oder Verlierer gibt.

 

In mir drinnen ist es immer still. Nur reicht das Wort ‘still’ alleine nicht aus, um zu beschreiben, was ich meine. Es führt in die Irre. Es impliziert, daß da eine Stille sei, die man erreichen könne. Das Wort reicht eben nur so weit, wie Worte eben reichen. Und niemals dorthin, was das Blümchen, an das ich dachte, mit seiner bloßen Existenz, völlig ohne Anstrengung und ohne Frage auszudrücken vermag. Vielleicht sollten wir statt unsere Worte die Blumen sprechen lassen.

 

Ich schließe wieder die Augen und spüre, daß mein Atem von alleine geht. Immer so, wie er will. Und ich nichts dazu tun muß. Auch nichts bremsen. – Ein abenteuerlicher Gedanke, daß wir ohne Bremsen leben und es auch gar nicht anders geht.

VorherigerNächster