Vom Luxus, keine Meinung zu haben

Ein Tisch, ein Stuhl, ein Mensch im gleichen Raum. Sagen wir mal, es ist eine Garderobe, zumindest von daher gesehen, wie wir diesen Raum benutzen. Der andere ist gerade hereingekommen und muß mich kurz gesehen haben, das habe ich aus den Augenwinkeln wahrzunehmen geglaubt. Bevor ich mich ihm jedoch richtig zuwenden kann, hat er sich schon zur Wand gedreht. Ich bin schon fast umgezogen. Er beginnt erst damit. Müssen sich zwei Menschen, die sich mehr oder wenig gut kennen, und die in einem Raum aufeinandertreffen, in dem man sich umzieht, jedesmal begrüßen? Oder ist es verkrampft, so etwas zu erwarten? Müssen sie sich anlächeln, die Hände schütteln? Was macht man in so einem Fall, wenn man all dies plötzlich nicht mehr weiß, nur weil der andere plötzlich etwas anderes macht, als sonst seit ein paar Jahren? Nachdem der andere nichts gesagt hat, sage ich auch nichts. Ein paar Kubikzentimeter Gewindekraft in meinem Gehirn stöbern nach irgendwelchen Wortfetzen, denn ich muss ganz schnell das entstandene Unwohlgefühl lindern, denke ich. „Kommst Du aus der Arbeit?“ frage ich. Verdammt, eigentlich hätte ich vor der Frage noch „Hallo!“ sagen können. „Nein.“ sagt der andere und entledigt sich langsam seiner vier Sachen. Ich habe diese Szene vor zwei Tagen erlebt. Seitdem denke ich manchmal darüber nach. Normalerweise hat er mich immer sehr freundlich begrüßt, wenn er in die Garderobe kam. Wir haben die Hände geschüttelt, uns angelächelt, unsere Namen genannt.

Das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, verfolgt mich bereits mein gesamtes Leben. Seit ich mich mit Menschen in den gleichen Räumen aufhalte. Seit meiner Geburt ist das der Fall, dieses Problem mit dem gleichen Raum. Anfangs habe ich noch herumgequäckt, gejammert und geschrien. Dann haben Worte meinem Toben eine Form gegeben. Schlank und rank wurden meine Lebensenergien in die Kanäle von Sätzen und Kapiteln getrimmt, mit denen ich begonnen hatte, mich zu disziplinieren und einigermaßen wohlgeraten in unser Zusammenleben zu fügen. Die Worte wurden immer mehr. Gestiken kamen hinzu. Bewusst gesetzte Gesichtsausdrücke. Mode und Kleidung, und schließlich das cool sein. Die Krone meines Lernens wurde schließlich mein Handeln. Mit ihm habe ich begonnen mein Leben zu prägen. Meine unentwegten Aktionen wurden zum Taktschläger meiner Wirklichkeit, einer Symphonie aus Handlungen, Worten, Sätzen, Ideen und Gesten. So habe ich allen möglichen Staub aufgewirbelt. Jetzt hat er sich wieder gelegt und ich bemerke den Mann, den ich kenne, und der mir den Rücken zudreht. Ist er mir wegen irgendetwas böse? Mag er mich nicht mehr? Vielleicht ist er auch wegen etwas ganz anderem schlecht gelaunt. Ist er das überhaupt? Manchmal glaube ich, ich bin mit einem angewachsenen Gehirnkrampf in die Wiege dieser Welt gelegt worden. Als Dauersäugling im Umgang mit Menschen bin ich verunsicherbar, als hätte ich keine paar Tage lang auch nur irgendeine Lebenspraxis gehabt. Abgebrüht müßte man doch sein nach 50 Jahren. Gelassen alles hinnehmend, egal wie es daherkommt. Aber wie gesagt, ich habe gelernt, mit Worten meine Wahrheit zu verfälschen und so ist mir Vieles von dem Dahergekommenen sicherlich vollständig entgangen. Ständig quirlen bis heute noch Worte in mir herum, wie in einem nicht wirklich kühlbaren Kernkraftwerk. Jetzt sagen diese Scheißworte in mir: „Der mag mich nicht mehr.“ Wer sagt nur so einen Stuss? Wer in mir? Bin das ich? Irgendetwas ist los. Was nur? Vielleicht spinne ich. Immerfort versuchen meine Worte eine Meinung zu formen. Oder irgendwelche Krampffragen. Wenn ich Zeitung lese, fernsehe oder über Themen rede. Ist es nicht tatsächlich so, dass es in dieser Meinungsgetriebenheit langsam ein immer größerer Luxus ist, einfach gar keine Meinung zu haben? Einfach keine? Also nicht einmal keine Meinung zu haben, sondern einfach nicht einmal die Tendenz einer Meinung? Ich könnte so den Rücken des Mannes in der Garderobe in einem ganz anderen Licht sehen, beziehungsweise gar keinem. Jetzt dreht er sich zu mir um. Für einen Moment bin ich verunsichert, denn die meinungsheischende Wortlawine in meinem Kopf hat mich mit ihrem Poltern zu sehr überrollt, als daß ich schnell genug gefasst sein hätte können. Jetzt sagt er: „Hallo! Ich hatte was Schweres in meiner Tasche. Es war so schwer, mein Gott. Ich bin müde heute! Grüß Dich.“ Von dem, was er mir gerade sagte, hatte sich nicht eine Silbe in meiner Wortlawine befunden. Alles ist neu und schockierend in diesem Moment. Erschreckenderweise geschieht etwas völlig Normales: Er schüttelt mir die Hand. Hätte ich nur keine Meinung gehabt.

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