Die Vogelfeindin

“Dieser Lärm! Fenster zu! Entsetzlich laut, dieses Gezwitschere!” – Sagte mein Gast gestern morgen zu mir, als wir beim Frühstücken saßen. Sie konnte morgens nicht mehr schlafen, wegen den Vögeln. Und wegen der Sonne. Sie hat sich hin- und hergewälzt, als hätte sie Magenschmerzen. Sie hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen und so ist sie von den Strahlen wachgekitzelt worden. Und jetzt ist alles Scheiße. Unausgeschlafen am Brot knabbern, in dem zu schnell gebrauten Kaffee herumtunken. Ganz langsam kauen, so, daß man den Brei, der im Mund ist, jederzeit wieder ausspucken kann. Vorhänge zuziehen, Fenster zu, Mund zu, runterschlucken. Frühstück fertig, Tür zu, Termine abhaken. Gespräche anfangen und beenden. Natürlich die gleichen Themen, wie immer. Die Kurven der Gefühlswallungen gerade noch kratzen können, bevor das erste Glas Wein den scharfen Wind des Tages aus den Segeln nimmt. Wieder fällt ein Tag in sich selbst zusammen. Der Abend beginnt mit einem Aperitiv unter einem Kastanienbaum, dessen hellgrünes Laub so träge herunterhängen darf, weil es – im Gegensatz zu meiner Freundin letzte Nacht – sein erster Tag ist in meiner Welt. Ich glaube, heute ist es wegen dieser vielen, neuen Sonnenstrahlen herausgeschlüpft. Ist es erst einmal dunkelgrün, dann hat es stramm auf den Ästen zu sitzen. Prall, vor Blüten explodierend. Bald wird es genug haben von der Sonne. Es wird welken, sich hängen lassen, es wird die Vorhänge zuziehen wollen, die Fenster schließen.  Doch jetzt… Naja, ich verstehe das. Wenigstens das verstehe ich noch. Es hat sich erst einmal mit Herumwackeln und lässig Baumeln begnügt, es mußte ja erst auch einmal sehen, auf welchem Planeten es gelandet ist, hier bei uns,  nach diesem Winter, in dem es kaum Schnee gegeben hatte und alle von der Sonne und von fernen Ländern geschwärmt hatten, sich aber keiner hinzufahren getraute, weil überall furchtbare Krisen waren, blutige Kriege, unvorhergesehene Katastrophen und unheimliche Atomunfälle. Auch hier unter diesem frisch erblühten Kastanienbaum hüpft übrigens ein Vogel herum. Ich habe beim Warten auf meine Verabredung am Baguette gerissen und beim Herumschmieren im gesalzenem Olivenöl die Tischdecke bekleckert. Aus Versehen habe ich obendrein einen Brotkrumen fallen lassen. Jetzt sind schon zwei Vögel da. Die Frau von gestern Nacht kommt gleich und die schlechte Laune von heute Früh kommt mir hoch. Jetzt sitzt sie da. Unten schon vier Vögel. Sie lacht mich an: “Die zwitschern ja gar nicht!” Ich sage: “Das Fenster ist ja auch nicht auf.” Frisch geborene Laubblätter am 10. April 2011

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