Die Welt neu erfinden: Verboten?

Manchmal will ich keine Neuigkeiten mehr wissen. Dann hänge ich einfach irgendwo herum und schaue mir dem Leben zu, so wie hier auf dem Fischmarkt in Busan in Korea. Denn manchmal hängen mir all diese Informationen zum Hals heraus. In deutschen Zeitungen habe ich jetzt gelesen, daß der Mörder der beiden Mädchen in Bayern scheint gefasst zu sein. Selbst in einer englischen Zeitung stand eine Notiz darüber. Das Internet bricht aus den Nähten damit. Ja, der Mann scheint es wirklich gewesen zu sein. Er muß es fast sein, der Mörder. Die aufgeommenen Blutspuren scheinen es zu beweisen. Daß das Blut von seinem Nasenbluten stammte, scheint eine Lüge zu sein, mit der er sich herausmogeln will. Denn die Polizei sagt, das gefundene Blut sei frischer, als daß es vom Nasenbluten stammen kann. Das Verbrechen ist so furchtbar, daß es fast unumgänglich zu sein scheint, daß er es nicht ist. Diese Bestie. Dieser Mörder. Dieser Unmensch, dieses Tier. Ich lese täglich die Schlagzeilen von dem, was seine Horrorwelt zu sein scheint.

Seit ein paar Tagen schaue ich nicht mehr zu den schwarzen Balken auf den Zeitungen. Der Guttenberg-Skandal  hatte meine Aufnahmefähigkeit bereits strapaziert. Bis heute weiß ich nicht, was ich von all dem halten soll, was da geschehen ist. Ich finde es – aus dem Bauch heraus gesagt – nur furcht bar, in jeder Hinsicht. Dann die Aufstände in Nordafrika. Das Drama in Libyen. Daß die Flugverbotzone erst eingerichtet wurde, als es bereits fast zu spät war. Das Debakel der FDP, das Gejammere um Westerwelle. Im asiatischen Restaurant muß ich mir jedesmal, wenn ich meinen Chilli-Fisch bestelle, die Kommentare über verstrahlte Fische anhören. Japanische Produkte. Menschen, die keine Autos von dort mehr kaufen, weil sie Angst haben, ihre Füße stehen dann immer auf verstrahlten Fußmatten. Knochenkrebs. Meine Güte, mit was beschäftigen wir uns eigentlich tagaus tagein? Dann dreht sich der Wind plötzlich: Fukoschima scheint plötzlich gar nicht mehr aktuell zu sein. Atomkraft wird wieder auf salonfähigere Weise diskutiert. Im Spiegel schreibt der Tschernobyl-erfahrene Mediziner Robert Peter Gale von der verschwindend geringen radioaktiven Gefahr, die grundsätzlich von Kernkraftwerken auszugehen scheint. Dabei zitiert er Statistiken und selbst angestellte Hochrechnungen zu den Anzahlen von Toten, die es in Tschernobyl, in Fukoschima gab, vielleicht geben wird, und wieviele Tote andere Energiegewinnungsmethoden zu verantworten haben. Es scheint so, als wäre Kernenergie eine wunderbare Technik, so scheint es, wenn man Gale ließt und glaubt. In einem  viele Jahre zurückliegenden Artikel veröffentlichte einmal der  New Yorker statistische Propaganda-Zahlen der US-Regierung zu  Wiedergutmachungsaktionen im Vietnamkrieg. Es stand dort geschrieben, wie viele Bäume pro Napalm-entlaubtem Wald wieder gepflanzt wurden, mit wievielen tausend Stunden Happy-Musik die USA bombardierte  vietnamesische Dörfer bestrahlt hatten und wieviele Schulen gebaut wurden. Die Amerikaner scheinen demnach alles super gemacht zu haben.

Diese Fakten- Informationslawinen sind nicht neu.  Sie sind so alt, wie es die Medien gibt. Ihre Nachrichten bescheinen eine Welt, die so zu sein scheint. Aber es nicht unbedingt sein muß. Es ist nicht bewiesen, daß der verhaftete Mann wirklich der Mörder ist. Vielleicht ist er es, vielleicht sogar wahrscheinlich. Und was ist mit dem kleinen bißchen, das geblieben ist, daß er es trotzdem nicht gewesen sein zu können scheint? Unwichtig, statistisch unwahrscheinlich? Die Zahlenkolonnen der Nazis. Statistisch war es so, nicht, schon, vielleicht, oder auch nicht. Auch ich finde diesen Mord entsetzlich. So, wie jeden Mord. Doch sollte man sich mit den eigenen Lynchgelüsten nicht wenigstens so lange zügeln, bis es wirklich feststeht? Was bedeutet es, daß unsere Informationsproduzenten diese Disziplin nicht oder kaum mehr beherrschen? Was bedeutet das für die Bewertung der Qualität unserer Freiheit, unserer Demokratie und unserer Gesellschaft? Was ist, wenn sich heraus stellt, daß der Mann es nicht war? Nach der Medienkampagne ist er für immer ruiniert. Mehr als das sogar: er ist im Prinzip gesellschaftlich bereits tot.

In der Faktenmasse ersticken unsere Gefühle, unser Mitgefühl, unsere Instinkte. Vielleicht sollte man wegen der Unsicherheit um die Qualität der Informationen auch seine Meinung über Atomkraft nicht mehr nach Fakten und Medienberichten ausrichten. Denn die schwanken auf Grund der täglichen Informationserdbeben pausenlos, so daß einem schwindelig werden könnte. Wir sollten, ja was sollten wir? Wonach richten wir uns? Dem gesunden Menschenverstand könnten wir beispielsweise vertrauen (wenn er noch intakt wäre), dem, was wir tatsächlich wissen, intuitiv verspüren und das ist bereits unendlich viel. Und ein disziplinierterer, reduzierterer Umgang mit den Medien. Beispielsweise, daß kein Mensch bis heute weiß, wie der Atommüll entsorgt werden soll, ohne die uns nachfolgenden Generationen möglicherweis schwer zu belasten. Reicht das nicht bereits aus? Unser Bauchgefühl wird in dieser Zeit der Infomationssintfluten zu einem bedeutenden Gradmesser. Und das sagt mir: Das, was nur so scheint, als ob es irgendwie wäre, das kann auch ganz anders sein. Denn es scheint nur so, als ob. Es ist nicht die Realität. Meine Güte, ich will von all dem gar nichts mehr wissen. Ich brauche eine Balkenpause, keine Schlagzeilen mehr bitte, die mir den Blick verstellen. Ich will die Sonnenstrahlen genießen, die der Frühling meine Haut kitzeln läßt und es ist mir scheißegal, wieviel Ozon da drin ist, durch vielviele Löcher in der Ozonschicht sie kommen und wie viele Explosionen auf der Sonne uns das Leben schwerer machen werden, bis 2012, wenn die Megakatastrophe kommt, die die Maya und die Hopi-Indianer und Nostradamus und all die Scheinfaktengänger durch die Welt trompeten. Ich will meinen Stapel Papier und meinen Laptop in die Ecke schmeissen, keine Wörter mehr schreiben und statt dessen im Meer schwimmen, egal, wie verseucht es ist und egal, wieviel Abwässer dort reingeleitet werden oder nicht.  Ich will mit meinem Handy telefonieren und es ist mir schnurzegal, ob dadurch mein Ohr verstrahlt wird. Und ich will jetzt meine Seiten diagonal beschreiben! Ja, das will ich, aber das geht leider nicht.  Das ist sowieso etwas, das ich überhaupt nicht verstehe: Warum beschäftigen wir uns mit all dem Computer-Schotter und dabei können diese Geräte nicht einmal eine Seite diagonal beschreiben, so wie es die Schreibmaschine konnte, wenn ich die Seite schräg reingezogen hatte. Oder schlangenlinienförmige Zeilen. Grafische Formen für die Worte, die diesem Informationserdbeben gerecht werden. Solange wir nicht so schreiben können, wird es weiterhin nur so scheinen, also ob. Und wir werden nie wissen, was wir anhand von Fakten von der Atomkraft halten sollen. Oder von einem Mörder, der noch nicht endgültig feststeht. Ich bin für kurvige Zeilen, für eckige  und spitz geschriebene Worte und Buchstabenformationen. Ja, ich muß gestehen, manchmal kriege ich den absoluten Überflieger und ich würde am Liebsten die Welt neu erfinden. Ist das eigentlich verboten? Das habe ich gedacht, während die Fischerfrau auf dem Fischmarkt in  Busan, der Japan zugewandten Küstenstadt Koreas, die Abfälle ihrer Arbeit wegputzte.  Ich darf doch denken, oder? Was ich denke, während ich im Fischmarkt herumhänge

VorherigerNächster