Stehengeblieben

Es kann sehr schnell gehen. Ein schneller Gedanke, einen Moment lang zittert die Hand und der Klipper schnappt zu. Der Nagel ist schräg abgeschnitten, viel zu schräg. Verrissen. Schonwenige Stunden danach geht es los, denn Nägel wachsen immer, egal, was geschehen ist. Wenn sie an der Seite falsch abgeschnitten sind, kann sogar ein monatelanges Martyrium blühen. Der kleine abgesprungene Sporn des Nagels wächst dann unaufhaltsam ins Nagelbett hinein. Ich habe gehört, dass man früher in Asien Menschen auf ähnliche Art und Weise folterte: Man setzte sie gefesselt auf Bambussprossen und begoss diese eifrig. Die spitzen Pflanzenstiele begannen sich in unsichtbarer, aber immer spürbarerer Geschwindigkeit in die Haut zu bohren, ins Fleisch, ganz hindurch, bis ins Herz, aber das bemerkte man vermutlich längst nicht mehr. Anders als beim asiatischen Foltern habe ich mit meinem Nagel noch ein paar kleine Chancen. Ich muß den abgesprungenen Sporn erwischen. Dafür brauche ich eine Spezialzange, man nennt das schwere und teure Ungetüm ‚Eckzange‘. Zudem ist eine ‚Nagelsonde‘ erforderlich, mit der ich vorsichtig unter den Nagel fahren muß, um zu erspüren, wie weit der gefährliche Sporn abgesprungen ist. Und dann muß er weg! Nagel hochbiegen, Eckzange ansetzen und skrupellos durchbeißen, das hornige Ding. Es wird sofort durch den Raum springen, wie ein Floh. Es kann sein, dass die danebensitzende Katze verschreckt davonjagt. Mit Sicherheit ist der spitze Sporn für immer verschwunden. Ob die Operation erfolgreich war, stellt sich allerdings erst wieder nach einer gewissen Zeit des Wachstums heraus. Oft muß man den Eingriff immer wieder neu vornehmen. Am besten sollte man es gar nicht erst so weit kommen lassen. Heisst: Ich darf mich von schnellen Gedanken nicht ablenken lassen. Ja, ich muss bei mir bleiben, in meiner Mitte ruhen, dafür weniger trinken, gesünder essen, mich weniger ärgern und mir keine selbstgemachten Probleme schaffen. Nicht zuletzt muss ich die Masse der unangenehmen Dinge, die ich zu tun habe, so drastisch reduzieren, dass ich meinen Tag mit einem Lächeln auf den Lippen angehen kann und jederzeit, ich wiederhole, jederzeit die Möglichkeit bestünde, in aller Ruhe und Gelassenheit ein Stück von meinem Nagel abzuschneiden. Mein Tempo darf nicht schneller sein, als ich dazu in der Lage bin, die Folgen meiner Handlungen zu übersehen. So ist es: Ich muß mein Tempo reduzieren. Ich bin wohl immer noch viel zu schnell für meine Zeit und ich jage herum durch diese Welt, alles rechts und links von mir übersehend, als wäre eine Horde böser Hexen hinter mir her. Wie langsam muss ich für dieses Leben eigentlich noch werden? Manchmal glaube ich, ich sollte vielleicht einfach stehenbleiben. Wie hier auf dem Fischmarkt in Busan/Südkorea (Foto: www.karlkramer.com) Stehengeblieben in Busan/Südkorea

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