Kollektiver Wirklichkeitsverlust: Diktatur ohne Diktator

Vor einigen Tagen habe ich einen Nachruf über den verstorbenen, amerikanischen Philosophen Daniel Bell gelesen. Er hatte bereits vor Jahrzehnten vorausgesagt, was wir heute haben: Eine um sich selbst kreisende, kapitalistische Wirtschaftsgesellschaft, eine um sich selbst kreisende, überaus mächtige Medienwelt, und lauter um sich selbst kreisende, soziale Gruppen und Schichten. Alle klagen, nirgendwo ist es recht. Obwohl er es prohpezeit hatte, hat kein Mensch etwas gegen diese Entwicklung getan. Was muß passieren, daß wir aus unseren Erfahrungen lernen?

Wenn ich mich bei einer meiner vielen Aktionen jeden Tag beobachte, von denen viele immer wieder die gleichen sind, aber nicht dieselben, so komme ich mir fast wir losgelöst vor, ohne daß ich das aber wirklich will. Ich empfinde kaum eine Berührung mit den Menschen um mich herum, denen ich auf der Straße begegne, im Supermarkt, im Büro. Das Alltagstempo hat eine Geschwindigkeit, daß meine Sinne kaum hinterher kommen. Immer wieder ertappe ich mich bei Gedanken über Situationen oder Begebenheiten Menschen, die nicht in der Gegenwart stattfinden, sondern die eine Weile zurückliegen. Wenn ich nach meiner Wirklichkeit fasse, so scheint sie in diesem hohen Tempo un dieser extrem äußerlichen, fast autistischen Nebeneinanderher-Welt allzu oft zu verschwinden.

Der Verlust des Gefühls für die eigene Wirklichkeit vollzieht sich tatsächlich so unmerklich, wie ein Segelschiffes ohne Rudermann unmerklich seinen Kurs aufgibt. In den griechischen Inseln habe ich das Experiment einmal ausprobiert. Ich wollte wissen, was passiert, wenn ich das Ruder meiner gecharterten Yacht loslasse: Das Schiff war zunächst von alleine auf dem gleichen Kurs weiter gesegelt, den ich eingeschlagen hatte. Obwohl ein ganz guter Wind in den Segeln stand, dauerte es eine ganze Zeit, bis das Schiff erst langsam, dann aber ruckartig und schließlich mit dramatischen Folgen vom Kurs abkam. Eine plötzliche Welle warf das Schiff auf die Seite. Da ich meine Hand nicht am Ruder hatte und stattdessen mit einem Segelkameraden über das Experiment debattierte, war es mir nicht möglich, im selben Moment dagegen zu steuern. Die zeitverzögert einsetzende Eigendynamik des Schiffes wirkte derartig heftig, dass ich Mühe hatte, das Schiff wieder zu beruhigen und auf einen halbwegs verträglichen Kurs zur Segelstellung und Windrichtung zu bringen. Die Folgen einer solchen Kursabweichung können in der Realität extrem sein: Wenn ich meine Crew nicht vorher in das Experiment eingeweiht hätte, wäre sie nicht darauf gefasst gewesen. Voller Schreck und Überraschung hätte sie ihr Vertrauen in mich als Schiffsführer verloren. Grundsätzliche Diskussionen und Debatten schaden in einer Situation der Gefahr. Sie müssen vorher geschehen. Es gehört zur ganz normalen Pflicht eines Schiffsführers, sämtliche Gefahren im Voraus zu durchdenken und die notwendigen Problemlösungen abzuwägen. Diese Art von Voraussicht ist die Pflicht für jede Führungskraft. Wenn die Überlegungen erst stattfinden, während die Gefahr Realität geworden ist, kann es bereits zu spät sein. Eine verunsicherte Crew behindert in einer Krisensituation enorm. Die Crew sind wir und der Rudergänger, der sein Steuer nicht richtig umfasst, sind unsere Wirtschaft und unsere Regierung.  Wirklichkeitsverlust ist einer der Hauptursachen für die Degeneration unseres Werteverständnisses. Die Wirklichkeit besteht aus unserer Gemeinschaft, ihren Werten und den daraus resultierenden Verantwortlichkeiten. Ohne Bewusstsein für die Verankerung jedes einzelnen im gesellschaftlichen Zusammenleben löst sich unser „seltsames Gefühl der psychischen Verbundenheit miteinander“ auf  – der französische Philosoph Lucien Levy-Bruhl nannte es „Participation Mystique“. Die daraus folgende, abgehobene Losgelöstheit in unserer eigenen Welt entfremdet uns immer stärker von der Gemeinschaft. Sie wird durch ein unrealistisches Selbstverständnis kompensiert, das sich aus starren Vorstellungen und Klischees nährt – ich nenne sie gerne Imagebilder. So beginnen wir uns selbst als fremd zu empfinden. Das wollen wir aber nicht, das akzeptieren wir nicht. Genau diese Abwehr gegen uns selbst projizieren wir nach außen, beispielsweise auf die Fremden in unserem Land. Auf Randgruppen oder auf missliebige Kollegen. Oder auf Freunde, die plötzlich alle etwas falsch machen. Die anderen sind die Bösen.

Da dieser Ärger, den wir nach außen richten, aber in Wirklichkeit in uns selbst wurzelt, gewinnen wir den frustrierenden Eindruck, mit unserer Kritik draußen ins Leere zu greifen. Die Schleuse zum kollektiven Frust öffnet sich. Es kommt zu Kommunikationsproblemen, weil wir uns selbst anders wahrnehmen, als die Außenwelt uns sieht. Die Ergebnisse einer solchen Situation der Entfremdung und Entwurzelung füllen – wie einen Spiegel unserer gesellschaftlichen Verfassung – die Storylines der Psychokrimis und Fernsehserien: ein meistens klischeehaft inszenierter, verletzender und unmenschlicher Umgang miteinander, Depression und Burnout, Egomanie, Amts- und Machtmissbrauch, politischer Filz, wirtschaftliche Korruption, Gier und Großmannssucht im öffentlichen Leben.

Glücklicherweise leben wir in einer Demokratie als Staatsform, die unsere Freiheit und Werte wahren soll. Doch unser System leistet diese Aufgabe nur noch bedingt. Mit ihren Parteien, die sich kaum mehr voneinander unterscheiden, droht sie in eine eigendynamisch vor sich hinwuchernde Diktatur ohne Diktator zu werden. Die Demokratie ist kein Lebewesen, welches sich durch einen automatischen Regenerationsmodus selbst relaunchen kann. Die Regierungsparteien lähmen sich mit ihrem zermürbenden Kämpfen und ihrem Schielen auf die nächste Wahl. Währenddessen streift die Zeit an ihnen vorbei.

Wo ist die Alternative? In Ermangelung eines besseren Systems kann sie letztlich nur in einem geschärften Bewusstsein eines jeden Einzelnen liegen. Aus dem geschärften Bewusstsein des Bürgers selbst kann unser System zu neuer Frische aufblühen. Wir tragen die Verantwortung für unser Gesellschaftssystem genauso selbst, wie wir uns um unser Privatleben und das eigene Glück selbst kümmern müssen.

Unsere Wirklichkeit ist nur so gut, wie das, was wir aus ihr machen. Die Qualität unserer Demokratie wird das Niveau der Menschen, die an ihren Steuern sitzen, niemals übersteigen. Damit sind alle gemeint: Jeder Chef, Politiker, Manager, Beamte, Kulturschaffende, aber auch – und das ist der bedeutendste Teil – jeder einzelne, wir selbst.

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