9. Rosenverkäuferin ohne Rosen

Es fehlt uns an Zeit. Diese Klage habe ich von einem Deutschlehrer im Westen unseres Landes vernommen.  “Ich bekomme keine Rosen” – in solche Augen habe ich heute gesehen.Die Augen einer Blumenverkäuferin am Münchner Viktualienmarkt. Heute war Valentinstag.  Wer alles hat, bekommt nichts, auch wenn es nur Rosen wären. Wer mit Geld um sich schmeißt, wie der Reichenprasser mit den Talern, empfindet nicht mehr, daß er reich ist. Es wird anscheinend eng. Männer drücken ihren Frauen einen Geldschein in die Hand: “Komm, kauf Dir ein paar Rosen, denn heute ist Valentinstag!”  Das erzählte mir die Rosenverkäuferin. So etwas sei kein Einzelfall, sondern käme sehr häufig vor. Dann schlagen bei ihr die Frauen auf und suchen sich desinteressiert irgendwelche Blumen aus, meistens keinen Rosen…  Als ich heute selbst Rosen gekauft habe, standen vor mir zwei Frauen und ein Mann und hinter mir eine Frau. Alle wollten Blumen kaufen. Wofür – das lassen wir einmal dahingestellt sein. Doch daß man einer Rosenverkäuferin als Mann, als Freund, als Verliebter, Geliebter oder was auch immer für ein Beziehungstypus, keine Rosen schenkt, ihr ganzes Leben nicht, nur weil sie eine Rosenverkäuferin ist und ständig von Rosen umgeben ist, das erschien mir wie ein seltsam unheimliches Omen. Ist uns das Gefühl für die Verhältnisse abhanden gekommen? Es ist, als würde ein Pfarrer nicht mehr beichten dürfen, nur weil er so viele Beichten abnimmt. Als würde der Reiche nichts mehr geschenkt bekommen, weil er sowieso alles hat. Als würden die Armen nicht mehr gefordert werden, weil sie angeblich zu schwach sind. Als würden die Politiker sich an nichts halten müssen, weil sie selbst Gesetze gestalten. Nichts mehr steht in einem Verhältnis zu etwas, sondern alles ist sich selbst gerecht. Nichts mehr steht für sich allein. Es ist, als wäre uns unser Bewusstsein abhanden gekommen. Als gäbe es keine Normalität mehr. Wir brauchen wirklich wieder mehr Zeit. Wir sollten wieder in die Schule gehen und den Lehrern zuhören.

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