Christian Seidel: Unklar! Wie kann das ein Mensch aushalten, immer mit dem gleichen Singsang in der Stimme zu sprechen?

Lukas Lessing: Das Unklare ist in diesem Fall das Brodelnde in uns drinnen, das nur mit einer dünnen Klarlackschicht überzogen ist. Die Klarlackschicht heißt Wissen oder Erziehung oder Konvention oder gutes Benehmen, und sie zeichnet sich nicht nur vor allem durch ihre Klarheit aus, sondern auch durch ihre pflegeleichte Abwaschbarkeit: Ist sie mal angekleckert oder sonst wie verschmutzt, genügen ein paar Wischer mit dem feuchten Schwamm, und schon strahlt alles makellos. Das Problem dieser Klarschicht über all dem Unklaren liegt nur darin, dass sie nicht ganz undurchsichtig ist, wie das vielleicht wünschenswert wäre: Wenn man genau hinsieht, dann schimmert unter dem Lack das Unklare hindurch – bei manchen Leuten mehr, bei manchen weniger. Und je sonorer die Sinustöne, die du immer hörst, mein Lieber, desto durchscheinender erscheint mir die Klarschicht – auch wen die Lackierten genau das Gegenteil meinen. Aber mir ist sowieso unklar, wieso diese Lackschicht bei den Menschen so selten abplatzt. Mir ist unklar, wieso es nicht viel öfter rummst und knallt zwischen den Menschen. Ich meine, die Leute müssten eigentlich fast alle schreiend durch die Straßen ziehen, aber sie wandern doch nur still lackiert vor sich hin. Und wenn einer mal Amok läuft, gibt es ein großes Geschrei – aber mir ist unklar, wieso nicht dauernd Amok gelaufen wird in diesem so sorgfältig lackierten, brodelnden Miteinander?

VorherigerNächster