8. Auch wir brauchen unser Ägypten!

Ich leide unter Entzug. Der erste Tag, an dem ich mich nicht dem selbsterzeugten Wertestress aussetze (siehe Blogs zum Thema „Wertvoll leben“). Meine Symptome: Leichtigkeit, mehr Toleranz, ich fühle mich zufrieden. Paradoxerweise fühlt sich genau das ziemlich wertvoll an. Und die Symptome selbst klingen sogar nach klassischen Werten: Toleranz, Aufgeschlossenheit, ein Bewusstsein für das Schöne um mich herum. Nein, nur weil es Symptome sind, ist das keine Krankheit. Ich muss nicht unbedingt immer irgendetwas tun, um etwas dazu zu gewinnen (siehe mein Buch „Gewinnen ohne zu Kämpfen, erscheint am 28. März 2011 im  Ludwig/Random Verlag und ich will gerne, dass es sich jeder kauft, mit leichtem Auge liest und etwas Tolles für sich selbst daraus macht..:).

Stellen wir uns einmal eine Welt vor, in der plötzlich alles in Ordnung ist. Es gibt keine Probleme zu bewältigen. Eine schlanke Regierung, die sich nicht streitet, regelt das Nötigste für alle Menschen. Die Menschen brauchen sich nicht sonderlich darum zu kümmern. Sie können jederzeit nachsehen, beispielweise im Internet oder in guten Zeitungen, was die Regierenden treiben. Aber wegen des umfassenden Vertrauens sind alle Menschen ziemlich relaxt. Es gibt keinen Politiker, der ständig promotet, dass es den einen schlecht geht und den anderen gut, und dass man deswegen seine Partei wählen muss, weil die angeblich das goldene Rezept in den Händen hält. Diese Sorte von Politikern, Managern und Demagogen existieren in dieser vorgestellten Welt nicht. Unter den Menschen herrscht zwar keine Gleichheit. Aber sie sind naturgemäß intelligent – etwas, was wir uns nicht vorstellen müssen, weil wir es tatsächlich sind. Etwas, was uns kein Bildungsapostel nimmt, indem er uns sagt, wie können nur dies oder das machen, wenn wir dies oder jenes gelernt haben. Bildung ist essentiell. Doch muss sie auch das Wissen fördern, das wir sowieso haben. Und das tut unser Bildungssystem mitnichten. So werden wir laufend konditioniert, nicht vollständig zu sein. So, als würden wir nur mit großer Anstrengung weiterkommen können und als würde dieses Leben eigentlich sowieso nicht ausreichen.

Wir wissen viel. Sicherlich wissen wir auch, dass es immer Unterschiede zwischen den Menschen geben wird. In der von mir vorgestellten Idealwelt wird denjenigen, denen es wirtschaftlich nicht gut geht, geholfen, so dass sie leben können und sie werden unterstützt, dass sie arbeiten können oder so existieren können, dass sie einigermaßen zufrieden sind. Aber sie werden dabei nicht diffamiert, wie das etwa mit Hartz IV – Empfängern allein durch dieses Wort geschieht und durch die Tatsache, dass sie statistisch immer mehr ins gesellschaftliche Aus gerechnet werden.

Natürlich wird es unter all diesen Menschen immer auch viele geben, die unglücklich sind. Sie leiden unter diesem und unter jenem. Aber sie sterben nicht, sie verhungern nicht, sie leiden nicht an Ungerechtigkeiten oder anderen Miß-Zuständen. Diese vorgestellte Welt ist eine Welt, in welcher es nur eine minimale Anzahl an ernsthaften Problemen gibt. Die Menschen gehen spazieren, sie arbeiten, sie lieben sich, sie bekochen sich, sie reden am Telefon, per sms, per Chat, per Twitter, per Skype oder sie beschmusen sich im Facebook. Umso mehr sie spüren, dass es eigentlich kaum Probleme gibt, weil sie nicht sterben und nicht verhungern und wenn sie sich objektiv und genau betrachten, eigentlich auch nicht wirklich so extrem unter ihren Umständen leiden, desto zufriedener werden sie. Sie brauchen keine Politiker mehr. Es geht ihnen vielleicht, wie mir heute. Ich habe mich gestern eines kleinen, selbstauferlegten Zwanges entledigt: diese 50 Artikel, täglich einen, über das wertvolle Leben zu schreiben. Und was mache ich gerade? Schon sitze ich wieder da! Ich schreibe mit frischem Atem und leichter Hand. Ich lasse diese Worte meiner Utopie aus mir herausfallen und erfreue mich an dem inhaltlichen Spiel, das sie schwarz auf weiß miteinander entwickeln. Durch das Weglassen meiner Zwänge ermögliche ich mir meine eigene Freiheit. Die dadurch entstandene Einfachheit läßt alles um mich herum nicht nur wertvoller schillern. Es ist auch sofort viel wertvoller. Ich muss mich auch nicht mehr so viel aufregen. Wie beispielweise über diese Bäckersfrau, über den Kellner im Cafe Puck, der erst um neun Uhr und nicht um fünf vor Neun den Tee servieren wollte. Über einen Freund, der mich gestern Abend versetzt hat. Oder über die ewig gleichen, politischen Fernsehtalkrunden. Durch das Weglassen der inneren Zwänge entsteht ein wunderbarer freier Raum. Indem ich mich über meinen Freund nicht geärgert habe, konnte ich die so entstandene zeitliche Freizone enorm geniessen. Es war beinahe abenteuerlich: Was sollte ich in dem unverplanten Zeitraum denn tun? Ich machte nichts und genoss einfach.


Später schaltete ich den Fernseher ein. Bei Anne Will bin ich ein wenig hängen geblieben. Ein groteskes Szenario: Frau von der Leyen und Frau Schwesig haben eigentlich fast gleich ausgesehen. Beide hatten die Haare zu blonden Politikerinnen-Frisuren ähnlichster Art zurechtgelegt. Beide die Beine parallel überschlagen. Beide beugten sich wohlwollend heischend zueinander herüber, wenn sie redeten. Beide setzten ein möglichst sympathisches Lächeln auf, während in ihnen drinnen – das konnte man förmlich spüren – eine verbale Rasierklingenfabrik möglichst vernichtende Faktensätze zusammenschmiedete. Beide ließen, das sympathische Lächeln nicht vergessend, kaum einen anderen Gesprächspartner zu Wort kommen. Beide antworteten – wie alle Politiker – nie auf die Frage der Moderatorin, sondern kommentierten immer irgendetwas vorher Gesagtes, was sie nicht unkommentiert lassen konnten, weil sie Angst hatten, dass der ungute Hauch des vorher Gesagten vielleicht eine Wählerstimme kosten könnte. Beide gingen nicht im Geringsten inhaltlich auf die verschiedenen, teilweise fundamentalen Fragestellungen und Kritiken der anderen Gesprächspartner ein, sondern schossen reflexartige unverständlichen Faktenkonstruktionen zurück. Der „Freitag“ – Herausgeber Jakob Augstein beispielsweise machte mehrfach den Ansatz, die sozialen Problematiken von Hartz IV anzusprechen, die Überlegung, dass das ganze Gesetz wegen seiner Ungerechtigkeit und den fatalen sozialen Auswirkungen bei den Betroffenen möglicherweise schlichtweg abgeschafft gehört. Die Antwort war das stereotype Fakten-Torpedofeuer. Müssen wir uns das wirklich noch antun? In Ägypten und Tunesien haben es die Menschen doch auch geschafft, ihre politischen Mauerwerke weg zu protestieren.

Auch unsere Politiker sind aus Stein. Unsere Demokratie ist in Gefahr, wenn sie von solchen  Menschen repräsentiert wird. Sie passen nicht in die von mir entworfene, vorgestellte Welt, in der es fast keine Probleme gibt. Denn dort wollen wir doch hin, oder nicht? Kritiker halt! Ein Quentchen Utopie tut auch dem Bogenschützen gut, wenn er in sein Ziel treffen will.

Unsere Politiker brauchen die Probleme. Denn sonst würde es viele dieser Politiker nicht mehr brauchen. So steinern, wie sie sind, schaffen sie sich zurzeit selber ab. Denn entweder sie verausgaben sich in ihren Hahnenkämpfen derartig, dass sie nichts mehr zu Wege bringen – und dann wird die Sehnsucht nach einem Erlöser immer größer, einem Diktator, und dann weiß ich nicht, ob ich noch in diesem Land leben will. Oder sie müssen das Skalpell bei sich selbst ansetzen:

Um sie darauf aufmerksam zu machen, haben wir dieses Jahr eine große Chance: das Superwahljahr 2011. Das wäre doch einmal eine Gelegenheit, auch bei uns etwas nach vorne zu bringen. Auch wir brauchen unser eigenes Ägypten, unser Tunesien. Warum sollten wir nicht einmal gegen unseren politischen Sumpf auf die Straße gehen? Nicht nur in den nordafrikanischen Staaten besteht politischer Überholungsbedarf. Auch unsere Demokratie, unsere politische Elite, unsere Wirtschaft braucht dringend eine Erneuerung, ein Relounge, eine Anpassung an die Anforderungen dieser modernen Zeit der Turbokommunikation, der Megafreiheit und der Globalisierung. Sonst verrottet sie und wir mit ihr.

Dann wird außer einem lahmenden, demokratischen Alt-Museum Deutschland nicht mehr viel übrig bleiben, was die chinesischen, indischen und arabischen Touristen bei uns zu sehen bekommen. Ich glaube, ich die Werte – Kolumnen erst mal weiter.

VorherigerNächster