6. Eine Rose für Ägypten

In meinem Bad steht auf dem Waschbecken eine Kosmetiktube, aus der seit Tagen ständig eine bräunliche Flüssigkeit quillt. Der lavaartige Brei wälzt sich in unsichtbarer Zeitlupe den Beckenrand entlang und bleibt normalerweise immer irgendwo mitten im Becken erstarrt stehen. Drei Tage lang geht das schon so. Dreimal habe ich alles weggewischt und weggeputzt. Ein paar Stunden später ist wieder alles voll. Ich weiß gar nicht, wie das überhaupt möglich ist, denn es muss bereits viel mehr herausgequollen sein, als in dieser Tube drinnen war. Mein Blick ins Bad ist mittlerweile zu einem fast stündlichen Ritual geworden, wenn ich daheim bin. Heute musste ich sogar während eines Geschäftsmeetings an die Tube denken! Seit meine Frau für ein paar Tage zu ihrer Familie gereist ist, existiert dieses Eigenleben im Bad. Was um Himmels Willen soll ich machen? Ich will mit den Sachen meiner Frau Svitlana sorgsam und respektvoll umgehen. Am Telefon beschwichtigte sie mich: „Cool down, die Tube hört schon von alleine zum quellen auf!“ Es sei eine besonders wichtige Kosmetik für sie, die sie dringend brauche. Ich habe bereits an der Flüssigkeit gerochen. Sie riecht nach nichts! Ich habe mich noch nicht getraut, daran zu schmecken, weil es meine Lippen nicht in die Nähe dieses Zeugs zieht. Und ich fühle mich seltam gehemmt, den schleimigen Brei anzufassen. Wegwerfen!? Ich putze meine Zähne und wasche meine Hände jetzt am anderen Rand des Beckens oder über der Badewanne. Bevor mein Freund Bernd, der mich heute Abend besuchte, ins Bad ging, habe ich das Schlamassel in Windeseile weggewischt. Ich wollte, dass er ein sauberes Bad sieht, das eines zivilisierten Menschen, der seine vier Sachen im Griff hat. Mit Bernd unterhielt ich mich über Freundschaft. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich vielleicht nur zwei oder drei wirklich gute Freunde habe. Freundschaft muss man pflegen, sagte Bernd. Das macht man durch Anrufe und regelmäßige Treffen, wie sonst? Wie oft muss man das tun, um eine wertvolle Freundschaft zu erhalten? Mein Facebook – Abenteuer, das ich vermutlich aus Unwillen bald beenden werde, lehrt mich die gleiche Lektion. Am Bildschirm pflegt man Freundschaften, indem man mit dem Zeigefinger auf die Maus trommelt, wenn am Bildschirm dieses kleine blaue Feld auftaucht: „Beppi will dein Freund werden…Wenn Du es auch willst…klick…“. Oder: „Sandra bestätigt, dass sie Deine Freundin wird. Gratuliere, jetzt hast Du bereits 85 Freunde!“ Irgendwie muss dieser mechanisierte Freundschafts-Wahnsinn zu den Umwälzungen in Tunesien und Ägypten beigetragen haben. Vielleicht sollte ich mich gegen diese Technologien doch nicht sträuben? Als Bernd vom Bad zurückkam, fragte er mich, was das denn für eine eigenartige Flüssigkeit wäre, die das Waschbecken herunter tropft. Mit einem Satz war ich dort. Schon wieder war eine Pfütze von zirka 20 Quadratzentimetern Durchmesser herausgequollen! Svitlana flehte mich am Telefon an, das Ding nicht wegzuwerfen. Aber wo soll ich die quellende Tube denn sonst hinstellen? Einfach lassen. In meinem Buch habe ich über die Einfachheit geschrieben. Darüber, dass nichts tun und nicht reagieren oft das Beste ist. Lachen ist besser, ja, lachen! Bernd und ich lachten uns kaputt über die skurrile Situation. Und als ich ein klein wenig zu viel lachte, hatte ich einen Funken von einem schlechten Gewissen gegenüber meiner Frau: Habe ich mich in ihrer Abwesenheit über sie lustig gemacht? Das wäre nicht besonders wertvoll. Schnell sage ich etwas Gutes über sie und wechsele das Thema. Heute ist ohnehin Ägypten-Tag. Man muss über Ägypten reden. Es ist gut, was in Ägypten passiert, denn es gibt etwas, worüber man reden kann, ohne irgendein Risiko einzugehen. Etwas, das man bedenkenlos gut finden kann. Und sie reden alle darüber, die Merkel und Cos. Jetzt ist Mubarak weg. Doch die Menschen demonstrieren noch immer! Wann hören sie auf? Was stimmt nicht? Die Tube im Bad quillt, die Menschen wälzen sich durch die Straßen. Sie demonstrieren jetzt auch in Algerien. Ahmadinedschad, der iranische Diktator, der Mann, der die Demonstrationen seines Volkes noch vor nicht allzu langer Zeit mit Panzern und Gewehrkugeln niedergemetzelt hat, ja , dieser Mann, er hat etwas ganz besonders Wichtiges gesagt: Er findet es gut, was in Ägypten passiert ist. Ja, das hat er gesagt! Ich beschloss, die Tube meiner Frau jetzt erst recht weiter quellen zu lassen. Sie soll überschäumen in ihrem nicht enden wollenden Beben. Ihre Quelle soll nie versiegen. Ich stellte eine Rose für die Menschen in Ägypten in die Tube. Als ich mir später die Zähne putzen wollte, sah ich, dass die Flüssigkeit nicht mehr aus der Tube lief.

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