3. Tag: Die Lügen der Unfreiheit

Mist, die Revolution ist immer woanders, als bei mir. Schon wieder sitze ich im Cafè. Kalte Hände, mein dritter Tag als Blogger. Bin zu spät dran mit dem Schreiben. Ich glaube, ich bin gehemmt, wegen den verbalen Tatsachen, die ich praktisch per Mausklick schaffe. Aber ich werde das jetzt durchziehen. Mir sitzt Leyla gegenüber. Sie ist eine alte Freundin und ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Ich kenne ihre Geschichte und mich interessiert, was sie jetzt über die Vorgänge in Ägypten denkt. Leyla ist in Teheran geboren worden. Sie ist während der islamistischen Revolution im Januar 1979 ein paar Tage, bevor die Grenzen geschlossen wurden, mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einer Militärmaschine geflohen. Leyla war damals neun Jahre alt. Zwei Wochen später übernahm Ayatollah Chomeini die Macht. Seine Schergen ließen sofort viele der alten Regierungsmitglieder ermorden und die kleine Leyla saß bereits in Nizza im Exil. Fast jeden Tag hörte sie von Freunden und Verwandten, die von den neuen Herrschern erschossen wurden. Diese neue Regierung war von Bundeskanzler Helmut Schmidt, US-Präsident Jimmy Charter und dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing unterstützt worden. Sie hatten den Demokratie-Gelöbnissen des Ayatollah Chomeini geglaubt. Geballte Naivität auf einem Haufen? Oder kam ihnen ein derartiger Machtwechsel aus irgendeinem Grunde gelegen? Ich höre meinen Gedanken zu und bestelle meine Butterbrezel. Leyla erzählt mir von ihrem alten Freund Ali-Reza Pahlavi. Vor einem Monat hat er sich das Leben genommen, er, der ihr in der Kindheit in Teheran das Fahrradfahren beigebracht hatte. Ali-Reza war der jüngste Sohn des verstorbenen Schahs und dessen wunderschöner Frau Farah Diba, die heute in Paris lebt. Die ehemalige Kaiserin Persiens hat jetzt bereits zwei ihrer vier Kinder verloren, denn auch ihre Tochter Laila kam durch einen gewaltsamen Tod ums Leben. Wie geht es meiner Freundin Leyla, der Politikwissenschaftlerin, die das arcadiia-Reisebüro für exklusive Traumreisen aufgebaut hat, wie geht es Leyla, die sich seit ihrer Flucht von damals so entwurzelt fühlt, dass sie für Menschen Träume in der Ferne organisiert und mit mir manchmal ganz unvermittelt auf Englisch spricht? Leyla erzählt mir: „Der Tod von Ali ist wie das Ende einer Epoche. Er fühlt sich für uns alle so an, als wäre es jetzt aus. Als würde es nie mehr so werden können, wie früher.“ Was empfindet sie dabei, wenn sie die Bilder von den Menschen sieht, die in Ägypten nach der Freiheit greifen? Leyla meint: „Ich habe Angst wie damals. Vielleicht bekommen sie mehr Freiheit. Ich habe auch Hoffnung, weil es in der Opposition starke, demokratische Kräfte gibt. Aber es hängt auch an Euch!“ – „Wieso an uns, und überhaupt: Gehörst Du nicht zu uns?“ – „Doch, aber fühlen tue ich mich wie eine geflohene Iranerin: Heimatlos.“ Während sie das sagt, hat Leyla Tränen in den Augen: „Damals habt Ihr den Ausschlag gegeben. Wenn Eure Präsidenten den Ayatollah nicht unterstützt hätten, hätte es nicht so weit kommen können!“ Damals – das ist gerade mal gute dreissig Jahre her, halb so lange, wie der Holocaust, dreimal so lange wie 9/11. Damals, das ist wie gestern.

Diese Muslimbrüder in Ägypten haben bereits angekündigt einen islamischen Staat zu errichten, denke ich, das kann man doch nicht hinnehmen! Aber Demokratie bedeutet doch, dass man alle Stimmen zulässt, schreit eine Stimme in mir. Ich frage: „Sollte man islamistische Strömungen verbieten, soll man die NPD verbieten?“ Leyla und ich reden plötzlich über ostdeutsche Dörfer. Über die dunklen Flecken auf den Landkarte, in denen ein rechtsradikaler Pöbel die Bevölkerung schikaniert, wie maligne Melanome die Haut. Muss man all denen nicht von vornherein das Handwerk legen? Ich fühle Wut in mir. „Durchgreifen sollte man endlich mal!“ wirbeln durch mein Gehirn. Meine Gedanken sind frei. Machen freie Gedanken bereits die ganze Freiheit aus? Später erzählt mir Leyla davon, dass die Menschen im heutigen Iran Spezialisten im Lügen seien. Wie bitte? „Verstehst Du das nicht? Sie müssen immer lügen, wenn sie sich lieben, müssen sie lügen, weil es verboten sein könnte; wenn sie ehrlich sind, müssen sie drum herum reden, sie sind Experten darin geworden, alles zu sagen, nur nicht die Wahrheit, um sich selbst zu retten!“ – „Aber Leyla, sag mir doch mal ganz ehrlich: Was glaubst Du denn, soll man tun, damit sich solche Katastrophen nicht wiederholen?“ Leyla schaut mich traurig an: „Man muss etwas gegen die Armut tun. Sie ist der Boden dieser Fanatiker. Die Armut greift immer mehr um sich. Immer mehr Menschen hungern.“ Ich will meine Brezel nicht mehr fertig essen. Freiheit. Ich denke an meine eigenen Lügen. Woher kommen sie. Woher die Angst, zu schreiben, was ich schreiben will? Ich muss mit der Revolution bei mir selbst anfangen. Und etwas gegen die Armut tun. Aber wie geht das?  Nicht zu viele Brezen essen, Müll trennen, Dosenpfand, Radfahren, Biofood, gegen Globalisierung sein. Rauchverbot, Straßen enger bauen. Parkuhren aufstellen. Protestierplätze abschaffen. Gegen Nichtwähler sein. Viel von Nachhaltigkeit faseln, lange Zehennägel in Birkenstocksandalen tragen. Bei Spazierengehen diese Stöcke schwingen und beim Joggen den Puls messen. Reichenautos bekratzen, Glücksspiel verbieten, Alkohol verbieten, laut reden verbieten. Verbieten! Früh ins Bett gehen und wenig Fernsehen befehlen. Und bloß nicht ausflippen. Damit alle was davon haben. Ganz wertvoll. Etepetete.


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